Die Frau, die am Meer blieb
Der Himmel war ein Meer aus wogenden Wolken, die eilig vor der einsetzenden Sommerbrise davonzogen. Unter diesen sich ständig verändernden Schattenspielen wanderte Eva barfuß über den feuchten Sand, spürte das Rauschen der Wellen bis in die Zehenspitzen. Ihre blonde Mähne wurde vom Wind zerzaust, doch sie ließ es geschehen. Heute wollte sie nichts kontrollieren, nichts festhalten.
Rocco, ihr treuer Begleiter, ein dunkelhaariger Mischling mit klugen, wachen Augen, trabte neben ihr her. Ab und zu hob er die Schnauze, um die salzige Meeresluft zu schnuppern, während seine Pfoten kleine Abdrücke im Sand hinterließen, die bald vom Wasser ausgelöscht wurden.
Die Ozeanluft füllte Evas Lungen mit jedem tiefen Atemzug, während sie sich bewusst auf das Hier und Jetzt konzentrierte. Der Alltag mit all seinen Anforderungen schien weit entfernt, hier hatte es keinen Platz.
Marek bemerkte die Frau schon von weitem. Sie hatte eine eigenartige Ruhe um sich, die ihn anzog. Als er näher kam, konnte er einen kurzen, herzlichen Gruß nicht unterdrücken. „Ein wunderschöner Tag, nicht wahr?“ bemerkte er und lächelte sie an.
Die Freundlichkeit in seinen Augen war spürbar, und Eva nickte: „Fast schon zu schön, um wahr zu sein.“ Rocco schien ihn zu mögen und schnupperte neugierig an Mareks Schuhen.
„Ich bin Eva“, stellte sie sich vor, ihren Akzent kaum bemerkbar unterdrückend, den sie sich noch immer nicht ganz abgewöhnen konnte.
„Marek. Freut mich. Und er?“, fragte Marek, auf den Hund zeigend.
„Das ist Rocco. Er mag das Meer genauso sehr wie ich.“
Sie gingen nun eine Weile nebeneinander, hin und wieder Worte tauschend, die im Wind verloren gingen, sich dann aber wiederfanden in umso bedeutungsvolleren Nebensätzen. Marek erzählte von seiner Arbeit als Fotograf und seiner Suche nach dem perfekten Licht, während Eva über die Veränderungen sprach, die die Stadt in ihrem Inneren ausgelöst hatte.
Ihre Wege kreuzten sich zufällig, aber mit jeder Minute wurde die unerklärbare Verbindung spürbarer, eine Verbundenheit zu einem anderen Menschen, den man gerade erst getroffen hat, aber zu kennen glaubt. Der Wind spielte weiterhin unerbittlich mit ihrem Haar, doch sie fühlte sich geborgen, sicher im Einklang mit der Natur.
Als Rocco zu einem seiner Abenteuer aufbrach, rannte Marek ihm aus einem plötzlichen Impuls heraus nach. Eva blieb stehen, beobachtete sie mit einem Lächeln, das von einer Hoffnung kündete, die sie lange nicht mehr verspürt hatte.
Der Abend begann zu dämmern und das Licht, nach dem Marek suchte, zeichnete sich in warmen Tönen über die Küste. Eva lehnte sich an einen vereinzelten Felsen und schaute aufs Meer, stille Worte der Dankbarkeit im Herzen.
Marek kehrte zu ihr zurück, ein wenig außer Atem, aber glücklich. „Vielleicht bleiben wir nicht lange hier“, sagte er leise und schaute in die Weite des Horizonts, „aber die Erinnerungen an diese Wärme und das Licht werden uns begleiten.“
„Ja“, erwiderte Eva, „manchmal reicht es, zu wissen, dass man ankam.“
Die Dunkelheit begann, den Strand zu umhüllen, die Wellen sangen ihr Lied von Vergänglichkeit und ebensolcher Beständigkeit, während Marek und Eva gemeinsam mit Rocco langsam den Heimweg antraten. Die Schritte waren leicht, das Schweigen war alles andere als bedrohlich. Es war beruhigend, friedvoll und voll solcher Versprechen, die ohne Worte auskamen.
Der Wind legte sich allmählich, die Stimmen des Meeres über den Tag verstummten bald, und Eva entschied, am Meer zu bleiben.




