Die Frau, die zwischen Welten wandelte
Der Morgennebel legte sich wie ein zarter Schleier über den See von Arwen. Die ersten Sonnenstrahlen brachen durch die dichten Baumwipfel, tauchten die Welt in ein goldenes Licht. Liora saß am Ufer, den Blick auf die glitzernde Wasseroberfläche gerichtet. Es war der perfekte Morgen – still, fast unwirklich, als würde die Zeit hier anders fließen.
Liora war eine Träumerin, nicht nur in Gedanken, sondern auch in ihren nächtlichen Reisen. Jede Nacht, wenn sie die Augen schloss, fand sie sich in einer anderen Welt wieder, die so lebendig war, dass sie glaubte, dort wirklich zu leben. Heute Morgen fühlte sich jedoch anders an. Eine neue Energie umgab sie, eine verborgene Wahrheit, die um Entdeckung bat.
Eine Krähe, schwarz wie die Nacht, setzte sich neben sie und krächzte leise. “Sol,” murmelte Liora, „mein treuer Begleiter.” Sol war mehr als nur ein Vogel. In ihren Träumen war er ein weiser Ratgeber, ein Freund.
“Die Träume haben eine Unruhe in sich, nicht wahr?” fragte Sol, während er sein Gefieder richtete.
Liora nickte. „Es ist, als würde etwas Neues geboren werden. Etwas, das unser Verständnis ändern könnte.”
Die Weisen des Dorfes hatten immer gemunkelt, dass der See von Arwen denjenigen, die bereit waren zuzuhören, Geheimnisse offenbarte. Liora wusste das, doch heute war sie hier, weil die Träume eine Intensität angenommen hatten, die sie nicht erklären konnte.
„Vielleicht solltest du zu Amina gehen,” schlug Sol vor. „Die Heilerin versteht die Magie der Träume besser als jeder andere.”
Und so erhob sich Liora, ließ den magischen Morgen hinter sich und machte sich auf den Weg zu Amina, die in einer kleinen Hütte am Waldrand lebte. Der Waldweg war von Vogelgezwitscher erfüllt und blühende Bäume säumten ihren Pfad, ihre Blütenblätter tanzten im milden Frühlingswind.
„Amina!” rief Liora, als sie die Hütte der Heilerin erreichte. Der Duft von Kräutern und frischem Brot empfing sie, als die Tür geöffnet wurde.
Die alten Augen Aminas leuchteten warm, als sie Liora hereinbat. „Setz dich, Kind,” sagte sie mit einer Stimme, die so ruhig wie der See selbst war. „Erzähl mir von deinen Träumen.”
Liora erzählte von den verstörenden Bildern und der überwältigenden Vertrautheit, die sie empfand. Amina hörte geduldig zu, ihre Finger machten kleine, beruhigende Bewegungen in der Luft.
„Träume sind das Tor zu unserem Inneren, aber manchmal sind sie mehr,” erklärte Amina. “Sie können Türen zu Realitäten sein, die wir nicht verstehen. Du musst lernen, die Magie zu lenken, bevor sie dich beherrscht.”
Amina führte Liora auf eine Reise in ihr Inneres. Mit geschlossenen Augen spürte Liora die Energie, die in ihr pulsierte, während Amina sie durch ihre eigene Seele leitete. Bilder von Welten flossen vor Lioras geistigem Auge vorbei, und sie begann zu begreifen, dass sie mehr war als nur eine Träumerin.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als Liora schließlich den See wieder erreichte. Sol wartete, geduldig wie immer, und schaute zu, wie sie das Wasser betrat.
Das Wasser war kühl und erfrischend. Liora watete tiefer hinein, bis die Welt um sie herum verschwamm. In diesem Moment fühlte sie die Präsenz der Welten, die sie in ihren Träumen erkundet hatte. Sie war nicht nur eine Reisende – sie war eine Brücke zwischen den Welten.
Die Tage vergingen, und Liora verbrachte jeden Morgen am See, lernend, die Magie in sich zu verstehen. Die Träume wurden klarer, zeigten Möglichkeiten, die für andere verborgen blieben.
Mit der Zeit wurde ihr klar, dass es nicht nur um die Flucht in die Träume ging. Es war die Erkenntnis, dass sie die Realität um sie herum verändern konnte. Sie begann, diese Erkenntnisse mit anderen im Dorf zu teilen, die anfingen, die Magie in ihrem eigenen Leben zu erkennen.
Jedoch war es Amina, die Liora die größte Lektion lehrte: „Die Träume sind Türen zu allem, was du sein kannst. Sie sind keine Flucht, sondern Möglichkeiten.“
Eines Morgens, während der Nebel sich erneut über den See legte, stand Liora am Ufer und lächelte. Sie hatte nicht nur die Kraft der Träume verstanden, sondern auch die Liebe und das Leben in ihren eigenen Händen gefunden.
Die Krähe Sol flog auf ihre Schulter und krächzte nachdenklich. „Die Welten sind vereint, dank dir.”
Liora nickte. „Ja, und ich bin endlich bereit, meine Reise fortzusetzen.”
Mit einem letzten Blick auf das ruhig daliegende Wasser wandte sie sich ab und ging ihren Weg, gestärkt durch die Erkenntnis, dass die Wellen ihrer Träume in der Realität kreisten und sie damit zu einer wahrhaftigen Brücke zwischen Welten gemacht hatten.




