Die Laternen von Nachtfrost
Die Nacht kroch wie ein scheues Tier durch die verwinkelten Gassen des kleinen, längst vergessenen Viertels. Eira zog ihren Mantel eng um sich und spürte das stechende Ausatmen des Winters an ihrer Haut. Der Schnee, der die Straßen bedeckte, schien die Geräusche der Welt zu ersticken, doch ein sonderbares Leuchten lockte sie tiefer in die Kälte.
Die Laternen hingen frei in der Luft, schwebten schwerelos entlang der Gasse. Kein Mast trug sie, kein Seil hielt sie zurück. Ihr Licht war weich, tröstlich, wärmte die frostige Nacht. Eira blieb stehen, fasziniert und zugleich verängstigt, als eine der Laternen näher glitt, ihre warme Helligkeit über Eira ergießend.
“Was bist du?”, flüsterte sie, als ob das Licht Worte zurückflüstern könnte. Doch die Stille blieb ungebrochen. Trotzdem fühlte Eira sich von einer unsichtbaren Verbindung angezogen. Was hatte sie hierher geführt?
Die Laternen führten sie weiter, tauchten die Gasse in ein Spiel aus Licht und Schatten. Jeder Schritt ließ den Schnee unter ihren Stiefeln knirschen, ein einsames Geräusch inmitten des Winters. Eira wusste nicht, wohin sie ging, aber die Laternen kannten den Weg. Sie musste nur folgen.
Der plötzliche Anblick eines verwitterten Schildes ließ sie innehalten: “Nachtfrost” stand darauf, die Buchstaben halb von Eis und Moos verdeckt. Der Name löste Erinnerungen aus, schmerzhafte wie auch schöne. Einst ein florierender Ort, doch längst verlassen wie ein Irrtum, den man vergessen wollte.
Ein Gefühl der Schuld umklammerte ihr Herz, ihr unerfüllter Wunsch, an diesen Ort zurückzukehren, der so viel von ihrem alten Ich in sich trug. Die Laternen schienen dies zu begreifen, sanken tiefer und beleuchteten die geborstenen Pflastersteine, als wären sie Zeugen vergangener Zeiten.
Eira dachte an die Menschen, die sie zurückgelassen hatte – jene, die von Nachtfrost fort mussten, als die Hoffnung versiegte. Ihre Schritte führten sie zu einem Platz, dessen Steinbänke im Schnee versunken waren. Dort ließ sich Eira nieder, die rätselhaften Laternen umkreisten sie sanft.
Der Wind holte Geschichten heran, die der Schnee verborgen hatte. Eira ließ los. Sie sprach in die Dunkelheit, erinnerte sich an Lachen, an Stimmen, die ihr fehlten – einen Schwur, der damals brach, einen Trost, den sie gesucht, aber nicht gefunden hatte.
Doch die Laternen trugen auch Hoffnung, zeigten Eira ein neues Licht, das in den Augenblicken der Einsamkeit geboren wurde. Ein Licht, das sie selbst in Händen halten konnte, wenn sie wagte, aus der Gasse zu treten und sich der Welt zu stellen.
Als die Nacht verblasste und der Morgen sein graues Licht auf das schlafende Viertel warf, standen die Laternen stabil, als wären sie ein Teil der Struktur der Stadt, das verlorengegangene Glied der Erinnerung.
Eira stand auf, fühlte die Gewissheit, dass der Ort nicht länger ein Schatten ihres Gewissens war. Die Laternen hatten sie gelehrt, dass Führung auf dem Verständnis der eigenen Schwächen und Stärken beruhte, ein Weg, der in ihr selbst begann.
Und während Eira die Gasse verließ, im ersten Anschein des Tageslichts, folgten ihr die Laternen nicht mehr. Ihre Aufgabe war erfüllt, der Weg erleuchtet, so klar wie nie zuvor.




