Die Laternen von Nivaris
Liora stand am Rand des schwebenden Marktplatzes von Nivaris. Die Luft war erfüllt vom Duft frisch gebackener Zimtbrötchen und dem leisen Klingeln von Windspielen. Über ihr schwangen Laternen, wie schwerelos in der kalten Winterluft tanzend. Dies war der Vorabend des großen Laternenfestes, ein Brauch, der Erinnerungen hütete wie kostbare Schätze.
Laternenhüter Arem, eine imposante Gestalt mit einem Mantel, dessen Farbe zwischen tiefem Blau und veilchenblauem Samt wandelte, trat in ihr Blickfeld. Seit die Stadt über den Schneewolken schwebte, war er der Hüter jener Laternen, die Licht aus vergangenen Geschichten und verlorenen Erinnerungen bewahrten.
„Liora“, sagte er mit einer Stimme, die wie das sanfte Rauschen von Taschensand wirkte, „heute Abend ist besonders. Komm, ich möchte dir etwas zeigen.“
Zusammen schritten sie über die Planken des Marktplatzes, der vom sanften Knarzen der hölzernen Stege begleitet war. Vor ihnen schwebte Jani, ein Kind mit aufgeregten Augen und einem zerzausten Schal, der wie ein verlängerter Mondstrahl funkelte.
„Meister Arem, zeigt ihr ihr das Licht?“, fragte Jani neugierig.
„Geduld, kleiner Jani“, entgegnete Arem lächelnd und strich dem Kind über die Wange, „jede Laterne trägt ihren eigenen Moment, und heute wird Liora eine finden, die für sie leuchtet.“
Der Wind frischte auf, trug Schneeflocken mit sich, die in der Luft wie gesponnene Zuckerkränze wirbelten. Die Stadt Nivaris, eine magische Oase, war in Licht und Dunkelheit gebadet. Magnetitartige Türme zeichneten Schatten, die sich über den Platz legten.
„Erzähle mir von ihr“, bat Liora, als die Laternen wie flüsternde Sterne über ihren Köpfen schwebten.
„Jede Laterne trägt eine Erinnerung“, erklärte Arem mit einer Stimme, die Geschichten in das Herz fließen ließ. „Und so, wie sich die Jahreszeiten ändern, so lassen auch wir unsere Erinnerungen aufsteigen, um das zu bewahren, was wir verlieren könnten.“
Liora sog die kühle Luft ein, die wie ein sanftes Echo klang, und schloss die Augen. Die Hoffnung, eines Tages die Erinnerungen ihrer verlorenen Schwester in einer Laterne zu finden, hatte sie hergeführt. Sie war klein, ein Glaubensgeschenk an den Himmel, der das Unerreichbare zu bewahren schien.
Sie hielt inne, als sie den vertrauten Schlag eines Herzschlags in ihrem Inneren spürte. Arem hielt eine Laterne, die von Nebelschwaden umhüllt war, und reichte sie ihr. Sie war zart, fast durchscheinend, ihr Licht flimmerte sanft, wie eine verschlafene Flamme.
„Diese Laterne“, sagte er leise, „ist voll von Erinnerungen, die bewahrt werden müssen. Magst du sie tragen?“
Liora konnte mit einem sanften Lächeln nur nicken. In diesem Moment trafen sich Eis und Licht in einem Ballett, wurden zu Erinnerungen, die die Zeit überbrückten.
Jani, der den Moment mit kindlicher Ehrfurcht beobachtete, trat näher heran, um das Licht zu fühlen, das ihm Trost spendete. „Liora wird es wissen“, flüsterte er hoffnungsvoll.
Der Abend legte sich über die Stadt Nivaris, sanft wie ein vertrauter Mantel, während die Laternen ihre leuchtenden Wege über den weiten Himmel zogen. Die Stadt wurde Teil des kosmischen Tanzes, in dem Erinnerungen zu den Sternen gesponnen wurden, deren Licht nie verlorenging.
Das Fest begann, als die Glocken der Stadt zu einem ruhigen Choral erwachten. Flammen entzündeten sich in bronzenen Schalen, und ein sanfter Schein tauchte die Stadt in Gold. Die Menschen flüsterten einander Geschichten zu, die im Wind Wurzeln zu schlagen schienen.
Liora, Arem und Jani nahmen Teil an diesem Reigen, als ob sie den Geist jedes Lichtes umarmten. In ihrem Herzen brannte die Erinnerung und Erwartung, dass jeder noch so verlorene Moment zurückkehren könnte, wenn man nur den Mut hatte, das Licht zu sein, das die Dunkelheit durchdringt.
Die Nacht von Nivaris glühte ruhig unter der Decke der Sterne, und in dieser Dunkelheit nahm Liora Abschied von der Vergangenheit. Jede Kerze, jede Laterne war ein Stück des Lebens, das nie wirklich verschwand, sondern nur seinen Ort wechselte.
Der nächste Morgen versprach neue Geschichten, denn in der Stadt über den Wolken gab es überall, in den Winkeln des Lichts und den Schatten der Dämmerung, noch so viel zu erzählen.




