Die letzte Akte im Archivkeller
Der kalte Hauch des Winters krabbelte unverhohlen den Hals von Gerichtsschreiber Paul empor, während er die schweren Eisentüren des Archivkellers des Justizgebäudes öffnete. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, der nicht allein der frostigen Dezemberluft zuzuschreiben war. Die alte, klamme Treppe knarzte unter seinen Schritten, während das trübe Licht der Kellerlampen müde auf die verstaubten Kisten und Regale fiel.
Paul hatte sich nie ganz wohl dabei gefühlt, die Feiertage im Gebäude zu verbringen, das von der ordnenden Strenge der Justizregelungen durchdrungen war. Doch die Fülle an unerledigten Arbeiten ließ ihm keine Wahl. Richterin Meier hatte ihm aufgetragen, die alten Fälle abzulegen, die aus den Schränken des Gerichts gezogen werden mussten, um Platz für Neues zu schaffen.
Als er den Lichtschalter betätigte, tauchte die nackte Glühbirne den Raum in ein sanftes, aber trostloses Leuchten. Seine Finger glitten über die verblassenden Etiketten der Kisten bis zu jener, die keinen Namen trug. Eine alte Papiermappe, besonders vergilbt und mit einem unleserlichen Vermerk versehen, fesselte seinen Blick.
“Jana H.” las Paul leise, als sein Atem in der Kälte sichtbar wurde. Kaum erinnerte er sich an den Fall, vielleicht hatte er damals noch nicht hier gearbeitet. Die Aufzeichnungen waren fast zwei Jahrzehnte alt, notiert in einer von Eile verwischten Schrift.
Die Geschichte von Jana, einer jungen Frau, die wegen eines vermeintlichen Verbrechens verurteilt worden war, zog Paul in ihren Bann. Ihre trockenen und distanzierten Aufzeichnungen widersprachen den Briefen, die seiner Lektüre beilagen, voller emotionaler Dringlichkeit und leidenschaftlicher Beteuerungen ihrer Unschuld.
Paul setzte sich mit einem gedämpften Seufzer auf den Boden, umgeben von den schweigenden Zeugen der Vergangenheit, und tauchte tiefer ein in den Mikrokosmos eines Lebens, das ihm fremd und doch so bekannt erschien.
Richterin Meier, die als damalige Beisitzende den Fall betreut hatte, erinnerten sich noch deutlich an die Angelegenheit. Paul entschloss sich, sie in einem Anflug von Übereifer am nächsten Tag darauf anzusprechen, in der Hoffnung, etwas mehr Klarheit zu gewinnen.
Der Schnee rieselte leise und melancholisch, als Paul ihr Vorzimmer betrat. Ein milder Hauch von Tannennadeln stieg ihm in die Nase, der Dezent dekorierte Baum brachte ein wenig Wärme in den ansonsten kühlen Raum.
“Paul, was verschafft mir das Vergnügen?”, fragte Richterin Meier, während sie durch ihre ovalen Brillengläser blinzelnd zu ihm aufsah. Ihre Gesichtszüge wirkten weicher, als die Jahre sie geformt hatten.
“Es geht um den Fall Jana H., der mir gestern Abend in die Hände fiel. Es gibt einige Ungereimtheiten in der Akte, die ich nicht recht einordnen kann…”, begann Paul zögerlich.
Richterin Meiers Stirn legte sich in Falten, als sie in ihren Erinnerungen kramte. “Jana H…”, murmelte sie und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, die Hände ineinander verschränkt. “Ja, den Fall kenne ich. Es war eine traurige Sache, aber damals lag uns nichts Besseres vor. Es war, wie es schien.”
Paul zuckte innerlich zusammen. Seine Haut kribbelte von der kalten Ehrlichkeit in ihrer Stimme. “Und doch bleibt da diese Stimme, so voller Verbitterung und Hoffnungslosigkeit. Ihre Briefe, ich meine…”
“Briefe?”, wiederholte Richterin Meier, die Hände auf den Tisch legend. “Es wurde behauptet, es habe keine gegeben, die relevant wären.”
“Vielleicht gab es einen Fehler oder einen Verlust in den Unterlagen”, schlug Paul vor, voller Zwiespältigkeit, die ihn quälte. Der Gedanke, dass ein Missverständnis oder Nachlässigkeit das Schicksal eines Menschen besiegelt haben könnte, war schwerer zu ertragen, als er angenommen hätte.
Die Richterin nickte nachdenklich, ihr Gesicht nahm einen Schatten von Bedauern an. “Manche Dinge gehören beglichen – jetzt, wo wir wissen, dass es hätte anders sein können.” Ihr Ton war sanft, beinahe eine Einladung, weiterzugehen und das Rechte zu tun.
Paul verbrachte den Rest der Feiertage zwischen den Akten, den spärlichen Informationen und einem stetig wachsenden Haufen Zweifel. Jana, von der sie so entschieden glaubten, sie sei schuldig, hinterließ ein Vakuum an Unklarheiten.
Die Weihnachtsfeiertage vergingen unmerklich, nur die tickende Uhr auf seinem Schreibtisch verkündete den leisen Lauf der Zeit. Paul kämpfte mit der Ungewissheit, die zwischen Recht und Unrecht changierte, und der Wahrheit, die unwiderstehlich zu strahlen begann.
Zuletzt, als sich die Welt langsam wieder vom Schneemantel befreite und der Frühling einen ersten Hauch ankündigte, stand Paul in dem Schatten des Gerichtsgebäudes, überlegte, wie er die Akte endgültig abschließen sollte. Doch vielleicht lag darin kein Ende, vielmehr ein Anfang.
In jener Nacht, als Paul das Licht im Keller löschte und die Tür schloss, verstand er, dass manche Akten nicht abgeschlossen, sondern neu gelesen werden müssen.



