Die Stadt aus Eisglas
Als die ersten Lichtstrahlen des Wintermorgens die verschneite Altstadt erhellten, glitzerte die Stadt aus Eisglas wie ein funkelndes Juwel. Die Fassaden der alten Gebäude waren von einer dicken Schicht glatten Eises überzogen, die das Licht in blauen und silbernen Schattierungen brach.
Nala zog ihren Mantel enger um sich, während sie durch die menschenleeren Gassen schlenderte. Ihre Schritte knirschten auf dem gefrorenen Boden, jedes Geräusch hallte zwischen den Fassaden wider. Es war ein seltener Anblick, diese Stadt, eingefroren in einem winzigen Moment der Ewigkeit.
Sie war auf der Suche, doch sie wusste nicht, wonach. All die Jahre hatte sie in diesen Straßen gelebt, die Geheimnisse und Geschichten in den Mauern geatmet—und dennoch schienen sie ihr zu entgleiten wie Schnee zwischen den Fingern. Heute fühlte sich die Stadt anders an, als hätte sich eine verborgene Tür geöffnet, ein Atemzug der Magie lag in der Luft.
Da bemerkte sie einen Fremden, der unweit von ihr im Schatten eines alten Bogens stand. Sein dunkler Mantel hob sich von der eisigen Umgebung ab, eine markante Silhouette gegen das Glitzern des Schnees. Sein Gesicht war unter einem tief ins Gesicht gezogenen Hut verborgen, doch seine Augen funkelten aus der Dunkelheit heraus, voller Versprechen und Geheimnisse.
Ihre Neugier überwog die Vorsicht, und sie trat näher. “Du kennst diese Stadt besser, als ich es tue”, sagte der Fremde mit einer Stimme so klar und durchdringend wie der Frost im Dezember.
“Ich lebe hier seit meiner Kindheit”, antwortete Nala und versuchte, der Faszination, die von ihm ausging, nicht nachzugeben.
“Dann weißt du, dass Eis nicht nur Kälte birgt, sondern auch schonungslos das Licht reflektiert, das wirklich ist?” Er streckte eine behandschuhte Hand aus und berührte sanft eine der Eissäulen neben ihnen. “Manchmal spiegelt das Eis, was wir verbergen.”
Der Satz traf sie unerwartet. Etwas in ihr wurde wachgerüttelt—ein Verständnis, das noch keine Form angenommen hatte. Sie spürte, dass die Stadt aus Eisglas ihr etwas offenbaren wollte.
„Komm”, sagte der Fremde und ging voran durch die verwinkelten Gassen. Nala folgte ihm, ihre Neugier stärker als jede Vorsicht. Sie schritten durch halb vergessene Durchgänge und enge Passagen, bis sie an einen stillen Platz kamen, wo die Zeit schien stehen geblieben zu sein.
In seiner Mitte erhob sich ein Brunnen, dessen Wasser zu erstarrten Kristallen gefroren war. Der Fremde blieb stehen und wandte sich Nala zu. „Hier werden die Wahrheiten offenbart. Schau in das Eis und sieh, was du in dir trägst.”
Zögernd trat sie näher, beugte sich über das gefrorene Becken. Zuerst sah sie nur das schimmernde Eis. Doch dann veränderten die Muster sich, begannen Gesichter zu formen und verschwinden, ihre Kindheitserinnerungen, verlorene Freunde, Entscheidungen, die sie bereut hatte, und solche, die sie stolz machten.
Sie sah das widersprüchliche Geflecht ihrer Identität verdeutlicht im kristallklaren Spiegel vor ihr—eine Mischung aus Heimweh und Hoffnung, aus Einsamkeit und dem brennenden Wunsch nach Nähe.
„Verstehe, dass die Stadt aus Eisglas mehr ist als nur eine Ansammlung von Steinen und Eis”, sagte der Fremde leise. „Sie ist ein lebendiges Gebilde, das von den Emotionen ihrer Bewohner genährt wird.”
Nala richtete sich auf, ihre Gedanken noch nachhallend in den Bildern, die das gefrorene Wasser ihr offenbart hatte. Sie sah den Fremden an, doch seine Silhouette schien mit den Schatten der schneebedeckten Stadt zu verschmelzen.
„Wer bist du wirklich?” fragte Nala leise.
Der Fremde lächelte mild, bevor er langsam verschwand, als wäre er Teil des kühlen Nebels, dem kalten Atem der Stadt. Zurück blieb nur der Hauch seiner Worte und das Gefühl, dass sie etwas Kostbares wurde nicht nur entdeckt, sondern auch freigegeben hatte.
Die Lichtstrahlen tanzten weiter über das Eis. Nala kehrte, reicher an Erkenntnis und stärker, in ihren Alltag zurück. Die Stadt aus Eisglas, lebendig und doch still, war nun Teil von ihr, und sie ein Teil von ihr.




