Die Stadt unter der Erde
Jonas fiel zum wiederholten Male der feine Staub auf, der in der verfallenen U-Bahnstation in der Luft hing und im trüben Licht der Notfallleuchten beinahe tanzte. Es war eine Nacht wie keine andere, finster und voller Geheimnisse, die er zu entschlüsseln hoffte. Neben ihm ging Mira, deren nachdenklicher Ausdruck nicht weniger rätselhaft erschien als die Umgebung selbst.
Die U-Bahnstation hatte schon bessere Tage gesehen. Überall bröckelten Ziegel von den Wänden, und der Wind, der aus den dunklen Tunneln pfiff, fühlte sich an wie ein Flüstern vergessener Zeiten. Jonas fragte sich, wie lange es dauern würde, bis das letzte bisschen Licht in dieser Unterwelt versiegt sein würde.
„Ich habe die Geschichte gehört,“ sagte Mira schließlich und durchbrach die Stille, „dass es eine verborgene Stadt hier unten gibt. Eine Stadt, die nur in Nächten wie dieser erscheint.“
Jonas neigte den Kopf zur Seite. „Eine Stadt? Unter der Erde? Das klingt wie ein Märchen.“
Mira lächelte schwach. „Vielleicht ist es das. Oder vielleicht ist es das, was uns jemand glauben machen will.“
Der Gedanke an eine verborgene Stadt faszinierte Jonas. Es hatte etwas Magisches. Doch ein Teil von ihm blieb skeptisch. In der Dunkelheit schienen die Grenzen zwischen Fantasie und Realität fließend zu sein.
Sie setzten ihren Weg fort und schoben sich durch die verwitterten Drehtüren, deren rostige Angeln knarrten. Die Feuchtigkeit klebte schwer an den Wänden und ließ die Luft klamm wirken. Jonas hielt seine Taschenlampe fest umklammert, wohl wissend, dass sie ihr einziger Lichtpunkt in dieser Finsternis war.
„Hast du je tagsüber hier unten gearbeitet?“ fragte Jonas. Sie waren jetzt in einem alten Abteil, dessen Fensterscheiben schon längst von Plakaten und Graffiti verdeckt waren.
„Ja, ich war einmal Technikerin, so wie Raul. Du weißt schon, bevor alles geschlossen wurde. Seitdem hat sich vieles verändert.“ Mira klang geistesabwesend, als sie an vergangene Zeiten dachte, an die surrende Betriebsamkeit, die nun von Stille ersetzt worden war.
Ein unmerklicher Windzug zog an ihnen vorbei, und Mira schauderte. Doch es war nicht die Kälte, die sie dazu brachte. „Manchmal frage ich mich, ob die Dunkelheit hier nicht mehr birgt als nur Vergessenes.“
Geräusche aus der Dunkelheit, fern und doch nah, hallten durch die Gänge. Eine Mischung aus raunenden Stimmen und unsichtbaren Schritten. Oder bildete Jonas sich das nur ein?
Raul, der Techniker, den sie treffen sollten, war schon dort unten. Er war ein Mann der Pragmatik, doch auch er hatte Geschichten darüber gehört, was in den Nächten geschehen würde, wenn der Wind aus den tiefen Tunnels wehte.
Als sie die hinteren Tunnel erreichten, begann die Temperatur merklich zu sinken. Überall lagen Überbleibsel der Zivilisation verstreut – alte Zeitungen, ein verrosteter Getränkedosenautomat, eingefroren in der Zeit.
Plötzlich hörten sie Geräusche. Schritte, die sich näherten. Jonas erstarrte. Spürte sein Herz schneller schlagen als je zuvor.
„Da bist du ja,“ kam eine kräftige Stimme. Raul tauchte aus der Dunkelheit auf, seine Taschenlampe beleuchtete kurz sein kantiges Gesicht, bevor sie auf Mira und Jonas gerichtet wurde.
„Ihr seid spät,“ bemerkte er und spähte misstrauisch in die Schatten hinter ihnen. „Ich hab etwas gefunden, das ihr sehen müsst.“
Sie folgten Raul durch eine schmale Nische in der Wand, die ihnen vorher nicht aufgefallen war. Der Wind wehte kälter hier, und die Dunkelheit schien dicht und undurchdringlich. Doch was sie jenseits jener Nische entdeckten, verschlug ihnen den Atem.
Eine endlose Stadt erstreckte sich vor ihnen, eingelassen in die Weite der Unterwelt. Straßenlampen mit leblosem Licht beleuchteten schmale Gassen und gewundene Arkaden. Es war, als ob die Zeit selbst den Atem angehalten hatte.
„Ist das…?“ fragte Jonas, unfähig seine Frage zu beenden.
„Die Stadt unter der Erde,“ antwortete Raul ernst. „Manche sagen, sie war einst ein Ort großer Magie. Andere sagen, sie ist ein Fehler der Natur. Wie dem auch sei, sie existiert.“
Mira trat vor, ihre Finger glitten über den glatten Stein einer nahen Mauer. „Es fühlt sich an, als ob hier eine Art Energie pulsiert,“ sagte sie leise, ihre Augen strahlten vor einem ungewissen Gefühl.
„Warum hat man diese Stadt damals nie gefunden?“ fragte Jonas, während er versuchte die Dichte und die Unberührtheit des Ortes zu begreifen.
„Weil niemand weit genug suchte,“ antwortete Raul. „Weil manche Geheimnisse nur bei Nacht geteilt werden wollen.“ Sein Ton war leise, kaum mehr als ein Flüstern.
Sie wagten sich tiefer hinein, verloren sich in einem Labyrinth aus Straßen, Treppen und unterirdischen Höfen. Gelegentlich vernahmen sie ferne Stimmen, die aus den Wänden zu kommen schienen.
Doch je länger sie blieben, desto deutlicher wurde die Wahrheit: Diese Stadt war keine gewöhnliche. Sie pulsierte mit einer unheimlichen Energie, die in der Vielzahl leblos wirkender Körper gipfelte, die in den steinernen Hallen lagen. Sie waren eingefroren in der Zeit, wie gefesselt von einem verlorenen Zauber. Eine Welle der Ehrfurcht und des Unvermögens erfasste die Eindringlinge.
„Was ist mit ihnen passiert?“ flüsterte Mira.
„Manche sagen, die Magie wurde zu machtvoll,“ sagte Raul, während er die Szene betrachtete. „Und andere denken, es war ein Opfer, das gebracht werden musste.“
Jonas starrte auf die Gesichter derer, die einst gelebt hatten und jetzt in einem endlosen Schlaf gefangen waren. „Vielleicht,“ überlegte er, „war es immer Teil des Plans, dass die Stadt schließlich entdeckt wird.“
Die Zeit verstrich, und die Dunkelheit schien schwerer zu werden. Sie fühlten sich als Teil eines großen, unausgesprochenen Geheimnisses, und doch wussten sie, dass sie diese Stadt nicht so einfach verlassen konnten, wie sie gekommen waren.
„Wir sollten gehen, bevor…“ begann Raul, doch seine Stimme veränderte sich plötzlich und stoppte. Alles um sie herum begann zu flüstern, und die Stadt unter ihren Füßen schien zu beben.
Ein Wind, stärker als zuvor, durchströmte die Hallen. Die Magie der Stadt erwachte, ergriff Besitz von allem, was da war, und für einen kurzen Augenblick wurde alles in leuchtendes, traumartiges Licht getaucht.
„Vielleicht führt uns die Dunkelheit zum Licht,“ murmelte Mira in einen letzten Moment der Erkenntnis.
Dann, so plötzlich wie es begonnen hatte, endete es. Sie standen allein in der verlassenen U-Bahnstation, das Geheimnis und die Magie verblasst, zurückgelassen nur als eine Erinnerung in ihren Herzen.




