Die Tür im Spiegelglas
Die Altbauwohnung war kalt, als Lina die Tür aufschloss. Der Herbst setzte ein, und die dicken Mauern hielten die Wärme nicht, doch das schien sie wenig zu stören. Es war diese Kälte, die dem Raum eine gewisse Authentizität verlieh, das Gefühl, dass Zeit hier eine andere Rolle spielte. Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich im Flur kurz gegen die Wand. Ihr Blick blieb am großen Spiegel gegenüber hängen, der fast die ganze Wand einnahm.
Er war alt, der Rahmen vergoldet, mit Ornamenten verziert, die Geschichten zu erzählen schienen. Doch es war nicht der Rahmen, der sie anzog. Es war das Spiegelglas selbst. Die Fläche verbarg etwas, das sie nicht benennen konnte, und doch fühlte sie sich wie magisch davon angezogen.
Lina lebte schon einige Monate hier, aber erst jetzt, an diesem nebelverhangenen Morgen, als der Nebel die Welt vor dem Fenster verschluckte, hatte sie das Gefühl, etwas entdecken zu müssen. Der Spiegel, der bisher kaum mehr als ein dekoratives Element in ihrem Flur war, wirkte plötzlich wie eine Tür, nicht ins Innere ihrer Wohnung, sondern hinaus in eine andere Wirklichkeit.
Sie trat näher heran, beinahe zaghaft, und betrachtete ihr Spiegelbild, das ihr entgegenblickte. Ihre Augen trafen sich, und für einen kurzen Moment war es, als ob die Zeit stillstand. Ein leichter Windhauch, den sie vorher nicht bemerkt hatte, streichelte ihre Wange. Als sie den Spiegel berührte, war die Oberfläche weich, gab leicht nach, und sie zog erstaunt die Hand zurück.
„Was verbirgst du?“ fragte sie flüsternd gegen ihr Spiegelbild und wartete, als könnte es ihr antworten. Nichts geschah. In jedem anderen Moment wäre ihr das Gefühl, mit einem Spiegel zu reden, absurd erschienen, doch heute war es anders.
Ein erneuter Schritt vorwärts, wieder der Blickkontakt. Dann, ein Flüstern, kaum hörbar. Es war nicht ihre Stimme, und doch lag etwas Vertrautes darin. Sie schloss die Augen, öffnete sie langsam wieder, und da war es: Der Umriss einer Tür zeichnete sich im Glas ab, so klar, dass sie die Klinke sehen konnte.
Irritiert trat Lina einen Schritt zurück. „Unmöglich“, dachte sie. Doch die Neugierde, dieser unaufhaltsame Drang, verbarg sich hinter ihrem Zweifel. Das Klopfen ihres Herzens übertönte jeden vernünftigen Gedanken.
Als die Dämmerung einsetzte, und das Licht der Straßenlaternen sanfte Schatten auf die Wände warf, nahm sie den Mut zusammen und berührte erneut die glatte Oberfläche. Die Klinke schien auf sie zu warten, aus dem Nichts heraus. Kaum dass ihre Fingerspitzen sie berührten, öffnete sich die Tür.
Das Bild im Spiegelglas schien sich zu bewegen, fließend, ein Raum entstand, sich ausdehnend und lockend. Dahinter erstreckte sich ein Flur, ein schmaler Gang, dessen Details im Dunkel verschwanden. Der kalte Hauch umspielte ihre Haut, einladend und gefährlich zugleich.
Lina zögerte, ihre Gedanken in einem Tumult aus Unsicherheit und Neugierde. Dann atmete sie tief ein und trat hindurch.
Die Welt veränderte sich, der Duft von Jasmin umfing sie, und mit jedem Schritt schien die Zeit sich aufzulösen. Sie fühlte sich leicht, als ob sie durch die Realität schwebte, schwerelos. Links und rechts des Flures erstreckten sich Türen mit geschlossenen Vorhängen, hinter denen gedämpfte Stimmen und leises Lachen klangen, als ob eine Party längst begonnen hätte.
Es war seltsam vertraut, als ob sie schon einmal hier gewesen war und doch ganz anders. An einem Fenster am Ende des Flures sah sie hinaus, auf eine Stadt, die weder Tag noch Nacht kannte. Hier war nichts, was sie zurückziehen konnte, keine Verpflichtungen, nur die Möglichkeit, sie selbst zu sein, ganz und gar.
Lina blieb stehen, lauschte dem Klang des Windes. Dann, ein Tropfen, der von irgendwo in der Ferne fiel. Sie drehte sich um, der Drang zurückzukehren wurde unerwartet stark. Für einen Moment überkam sie die Angst, nicht zurückkehren zu können, gefangen zwischen Spiegeln und Möglichkeiten.
Doch der Spiegel zeigte den Weg, und als sie ihn durchschritt, fand sie sich wieder in ihrer Wohnung. Der Spiegel war wieder nur ein Spiegel, keine Tür weit und breit. Doch ein leises Lächeln spielte auf ihrem Gesicht. Waren es nur Träume, oder hatte sie wirklich die Grenze zwischen den Welten überschritten?
Der nächste Morgen brach an, mit einem neuen Licht und neuen Möglichkeiten. Lina wusste, dass sie jederzeit dorthin zurückkehren konnte, wenn sie bereit war. Manchmal öffnet sich nur, was du ansiehst.




