Die unerwartete Begegnung
Vorlesezeit: ca. 20 Minuten
Der kleine Antiquitätenladen in der Kleinstadt wirkte wie ein Ort fernab der Zeit. Staubige Sonnenstrahlen fielen durch die Fenster, glitzerten auf alten Büchern und verblichenen Postkarten. An diesem warmen Julitag trat Lena ein, um der brütenden Hitze draußen zu entkommen. Die Luft im Laden war schwer und duftete nach altem Papier.
Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, als Wilhelm, der ältere Herr hinter dem Tresen, sie mit einem freundlichen Nicken begrüßte. ‘Ist es heute nicht heiß?’, fragte er leise. Lena lächelte und nickte. Ihre Augen wanderten über die Regale, bis sie an einer Schachtel mit alten Postkarten hängen blieben.
Neugierig zog sie eine Karte heraus, deren Kanten bereits fransig waren. Die Vorderseite zeigte ein verwittertes Foto der Stadt, bei Nacht gemalt, mit einem altmodischen Glanz. Die Rückseite enthielt eine sorgfältig in Tinte verfasste Notiz, datiert auf einen Sommer vor fünfzig Jahren.
‘Dein Geheimnis bleibt bei mir. In Liebe, R.’ Das war alles, was da stand. Lena spürte einen unerklärlichen Drang, mehr über diese vergilbte Karte zu erfahren.
Während sie über die Worte nachsann, betrat ein anderer Besucher den Laden. Max war ein Musiker, der in der Stadt Halt gemacht hatte. Seine neugierigen Augen suchten nach einem interessanten Buch, blieben jedoch an Lena hängen. Ihre ruhige, konzentrierte Präsenz inmitten des alten Papiers faszinierte ihn.
‘Interessiert an alten Geheimnissen?’ Er ging auf sie zu, deutete auf die Postkarte in ihrer Hand.
Lena zuckte leicht zusammen, lächelte dann. ‘Vielleicht. Gibt es hier jemanden, der mehr darüber erzählen kann?’ Ihre Worte klangen verspielt.
Die beiden fingen an zu plaudern, und Max erzählte von seinen Reisen, den Geschichten, die er gesammelt hatte, und den Liedern, die er schrieb. Lena fühlte sich von seiner Offenheit und seinem Lächeln angezogen, und so verging die Zeit wie im Flug.
Ein alter Turm im Hintergrund des Postkartenmotivs kam Max bekannt vor, und er schlug vor, diesen Ort gemeinsam zu erkunden. Lena stimmte zu, wenngleich sie das Abenteuer im Herzen ihrer kleinen Stadt überraschte.
Die Sonne brannte noch stark, als sie zusammen durch die Kopfsteinpflasterstraßen schlenderten. Sie fanden den Turm, der kaum mehr als eine Ruine war, und setzten sich auf die von Ranken überwucherten Stufen.
‘Was glaubst du, was die Geschichte der Karte ist?’ fragte Lena, während sie den Worten nachlauschte, die die Sommerluft streifte.
Max zögerte, als ob er die Lösung geradezu schmecken könnte, ließ dann jedoch seine Fantasie spielen. ‘Vielleicht war es eine heimliche Liebe. Eine Sommerromanze, die in der Hitze des Augenblicks geschrieben wurde, als Versprechen für das Unerreichbare.’ Seine Augen leuchteten, während er sprach.
Lena senkte den Blick auf die Karte und ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus. ‘Vielleicht wurde die Geschichte nie zu Ende erzählt und wartet auf ein neues Kapitel.’
Die Stunden verflogen. Das Gespräch zwischen Lena und Max wurde intensiver, von einem neugierigen Austausch hin zu einem leisen Verstehen. Als die Schatten länger wurden und das Licht sanfter, entschieden sie, zurückzugehen.
Im Laden verabschiedeten sie sich von Wilhelm, der jetzt mit schelmischem Lächeln im Gesicht ihre Hände schüttelte. Auf dem Weg hinaus fiel Licht goldgelb durch die Tür und färbte ihre kleinen Schritte ins Unbekannte.
Zwei Tage später, als Lena den Laden erneut betrat, um Max zu treffen, fand sie eine neue Notiz auf dem Ladentresen: ‘Dein Geheimnis bleibt bei mir. In Vorfreude, R.’
Wilhelm zwinkerte ihr zu, die Sonne wärmte sanft ihren Rücken, als sie draußen die Straße entlangging. Lena hielt die Postkarte an die Brust gedrückt und die Welt erschien plötzlich etwas freundlicher, die Luft kühler, ihre Schritte leichter.
So, wie sie es seit langem nicht mehr gefühlt hatte: erwacht, im Schwebezustand einer neuen, unausgesprochenen Verbindung.




