Die verschwundene Tänzerin von Wien
Vorlesezeit: ca. 12 Minuten
Der Nebel lag schwer über dem Altbauviertel. Die Straßenlaternen warfen fahle Lichtkreise auf das nasse Kopfsteinpflaster, während das Rascheln der herbstlichen Blätter von den Füßen der Passanten unterdrückt wurde. Kommissar Berger stand vor einem der beeindruckenden Gebäude aus der Gründerzeit und zog seine Jacke dichter an sich heran. Die Luft war kalt, und die Nacht versprach, lang zu werden.
„Wir brauchen eine Spur“, murmelte er, während Eva, die Journalistin, neben ihm auftauchte. Ihre Kamera baumelte um ihren Hals, doch es waren ihre wachen Augen, die auf jedes kleinste Detail achteten.
„Herr Klein hat irgendetwas gesehen, davon bin ich überzeugt“, sagte Eva. „Er lebt seit Jahrzehnten hier, er kennt alle Geheimnisse dieser Häuser.“
Berger nickte. „Dann sollten wir ihm einen Besuch abstatten. Er ist unsere beste Chance, etwas über das Verschwinden der Tänzerin herauszufinden.“
Die beiden machten sich auf den Weg zu einer der dunklen Holztüren, die verborgene Geschichten und längst vergessene Schicksale beherbergten. Herr Klein war ein älterer Mann, gebückt, aber mit einem scharfen, durchdringenden Blick. Sein Wohnzimmer war vollgestopft mit alten Möbeln und vergilbten Büchern.
„Die Tänzerin, sie war eine besondere junge Frau“, sagte Herr Klein langsam, als wäre jedes Wort ein kostbares Gut. „Sie kam vor ein paar Monaten, hat manchmal im Erdgeschoss geübt. Ich erinnere mich an ihre Musik, sie hat immer ein Lächeln auf mein Gesicht gezaubert.“
Eva notierte eifrig, während Berger fragte: „Haben Sie sie in der Nacht ihres Verschwindens gesehen?“
Herr Klein runzelte die Stirn. „Ich habe einen Schatten gesehen. Es war spät, und der Nebel… es war schwer zu sagen, aber ich dachte, ich sah sie in ein Auto steigen. Jemand wartete auf sie.“
„Ein Auto?“ Eva zog die Augenbrauen hoch. „Haben Sie das Kennzeichen erkannt?“
„Nein, nein. Es war alles so schnell vorbei. Aber das Licht – die Rücklichter – sie waren ungewöhnlich hell.“
Berger nickte nachdenklich. „Das ist mehr, als wir bisher hatten“, sagte er und dankte Herrn Klein, bevor sie die Wohnung verließen.
Draußen im Nebel berieten sich Berger und Eva über ihre nächsten Schritte. Es gab nicht viele Wagen in Wien mit solchen Rücklichtern. Vielleicht könnte dies die Spur sein, die sie brauchten.
„Wir sollten die Aufnahmen der Überwachungskameras in der Nähe überprüfen“, schlug Eva vor. „Vielleicht finden wir den Wagen.“
Berger stimmte zu, und sie machten sich in Richtung des Polizeipräsidiums auf. Die kalte Luft schien sich um ihre Gedanken zu legen, während Geräusche gedämpft durch die Gassen drangen.
Im Präsidium saßen sie zusammen mit einem Techniker vor den Bildschirmen. Es dauerte Stunden, in denen sie Kaffee tranken und Augenlider schwer wurden, doch dann – ein Fund: Ein Wagen mit hellen Rücklichtern, der immerhin an diesem Abend in der Nähe geparkt war.
Ein Hoffnungsschimmer blitzte auf. „Das müssen wir verfolgen“, sagte Berger. „Es könnte uns einen Schritt näher bringen.“
Langsam, aber sicher begannen die Puzzlestücke zusammenzufallen. Telefonate führten zu langen Stillephasen, und bei jedem Rückschlag sammelten sie mit neuem Eifer die verstreuten Hinweise auf. Schließlich führte ihre Spur zu einer Adresse am Rande des Altbauviertels. Ein heruntergekommenes Gebäude, wo das Auto oft gesichtet worden war.
Sie betraten das baufällige Haus, begleitet von einem Hauch von Verfall und Vernachlässigung. Das Knistern unter ihren Füßen und das Knarren der Treppen verstärkten das unheimliche Gefühl. Plötzlich – Bewegung. Ein Zimmer mit verschlossener Tür.
Mit einem angedeuteten Nicken stieß Berger die Tür auf, und das Rätsel fand ein unerwartetes Ende. Die Tänzerin saß inmitten eines chaotischen Raumes voll Kleinigkeiten und Erinnerungsstücken, den sie offensichtlich geteilt hatte. Verwirrt und erleichtert über ihre Entdeckung trafen all ihre bisherigen Annahmen auf die Realität.
„Ich wollte dich nicht finden lassen“, sagte sie leise zu Eva, einer alten Freundin, die sie einst zurückgelassen hatte. „Aber ihr habt die Wahrheit aus dem Nebel gezogen.“
Die Wahrheit war komplizierter als erwartet. Ein Leben, das zu groß war für die Schatten dieser alten Mauern, und ein erneutes Band, das zwischen ihnen gesponnen wurde. Manchmal sind die Geschichten in den Schatten nur darauf wartend, ans Licht zu kommen.




