Ein Funke im Wind
Vorlesezeit: ca. 11 Minuten
Ein sanfter Frühlingswind strich durch die verlassenen Straßen der Stadt, spielte mit den Blättern der Bäume, die sich ihren Weg durch den zerbrochenen Asphalt gebahnt hatten. Kara stand auf einem der Dächer und blickte über das weite Meer aus verwilderter Natur und zerfallener Architektur. Sie zog die dünne Jacke enger um ihre Schultern und verlor sich im Spiel der Schatten, die die untergehende Sonne auf das Mauerwerk warf.
„Kara?“ Elyans Stimme klang nah, doch es war nur ein Echo im Wind. Er schloss sich ihr an und gemeinsam betrachteten sie die verfallenen Silhouetten, die einst Heimat für Tausende waren.
„Glaubst du, dass wir hier jemals wieder Leben finden?“ fragte Elyan, seine Worte von der stillen Hoffnung erfüllt, die in dem zarten Duft des Frühlings mitschwebte.
„Vielleicht. Alles liegt in der Asche verborgen. Zukunft, Hoffnung und der unbezähmbare Funke des Neuanfangs.“ Kara lächelte, ein Hauch von Traurigkeit in ihrem Gesicht.
Sie verließen das Dach und gingen zurück ans graue Ufer eines Sees, dessen Oberfläche im Licht des abendlichen Himmels silbern glänzte. Mira wartete dort auf sie, ihre Gestalt eine stille Mahnung an die einstige Lebendigkeit des Ortes. Sie hatte begonnen, ein kleines Feuer mit den verstreuten Überresten einer alten Bank zu entfachen.
„Hier seid ihr also“, sagte sie, „ich habe gedacht, vielleicht brauchen wir etwas Wärme.“ Die Flammen flackerten zögerlich auf, als könnten sie die Kühle der Vergessenheit nicht abschütteln.
„Erzähl uns eine Geschichte, Mira“, forderte Elyan sie sanft auf. Mira lächelte und blickte in die glühenden Kohlen. Ihre Stimme war weich wie der Tau auf Morgengras, während sie begann:
„Es war einmal eine Stadt, so voller Licht und Leben, dass selbst die Sterne nachts eifersüchtig schienen. Doch mit der Zeit verließen die Menschen sie, und sie wurde eins mit dem Wind und der Erde. Doch die alte Magie, die über diesem Ort lag, verging nicht, sondern ruhte – geduldig, wie das Erwachen eines neuen Morgens.“
„Denkst du, sie wird je erwachen?“ fragte Kara und ihre Augen glühten im Widerschein des Feuers.
„Wer weiß“, antwortete Mira. „Vielleicht wird eines Tages jemand kommen, der die richtigen Worte flüstert oder die richtige Feder in den Wind wirft, und alles wird wieder erblühen.“
Elyan legte einen Arm um Kara und Mira und sie saßen in einer stillen Umarmung, das Feuer zu ihren Füßen, der Mond auf der Stirn der Nacht.
Als Kara den Blick in das Dunkel jenseits der Flammen wandte, schien es ihr, als flüsterten die Schatten Geschichten aus vergangenen und kommenden Zeiten. Dunkle Silhouetten der Vergangenheit, die im zarten Schein des Morgenlichts zu Blumen der Hoffnung heranwachsen könnten.
Elyan begann leise zu summen, eine Melodie, so alt wie die Ruinen um sie, und dennoch voller neuer Töne und Versprechen. Die Stadt, dachte Kara, hatte vielleicht noch nicht den letzten Atemzug getan.
Am nächsten Tag lagen die ersten Sonnenstrahlen leicht wie Federn über der Stadt und das Rauschen der Winde klang wie gelöste Ketten, die in die Freiheit entlassen wurden.
„Es gibt noch so viel zu entdecken“, flüsterte Elyan, als sie ihre kleine Gruppe aufbrach, um die Straßen zu erkunden. Sie fanden ein Mosaik unter dem Schutt verborgen, ein zerbrochenes, aber wunderschönes Abbild eines blühenden Baums. Für einen Moment schien es, als hätten sie etwas Heiliges wiedererweckt.
Vielleicht war die Magie der Stadt nie ganz verschwunden – sie war im Wandel verborgen, war darauf wartend, neu gestaltet und wiedergefunden zu werden. In den stillen Winkeln, in denen der Frühling einen zarten Hauch von Neuanfang verstrich, lag die ewige Verheißung der Erneuerung.




