Ein Rätsel im Wald
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Die Dunkelheit hatte längst den Wald verschlungen, als Kommissarin Hanna ihren Fuß auf den schmutzigen Pfad setzte. Um sie herum waberte der Nebel, verhangene Schleier, in denen das fahle Mondlicht tanzte. Die Luft war kalt, das Atmen schwer, während der Geruch nach feuchtem Laub ihr in die Nase stieg.
Hannas Herz schlug schwer gegen ihren Brustkorb, als sie die Spur suchte. Jeder Schritt knirschte unter ihren Stiefeln, unheimlich hallend, als ob die Geräusche von den Bäumen zurückgeflüstert würden. Der Fall, der sie hergeführt hatte, lastete auf ihren Gedanken. Jonas, ein junger Mann, war seit drei Tagen verschwunden. Der Nebel hatte ihn verschluckt, nicht zum ersten Mal, erzählte man sich.
„Die Bäume schweigen auf ihre eigene Art“, hatte alte Frau Irma gesagt, als Hanna sie befragt hatte. Ihre Augen hatten irgendwo zwischen Wehmut und Wissen geblitzt, als sie an ihrem Küchenfenster stand, den Blick in den verschneiten Wald gerichtet. Hanna hatte unsicher genickt, zu höflich, um zu widersprechen, zu erfahren, um den Hinweis zu ignorieren.
Einschüchternd stand der Wald da, und Hanna spürte, wie eine Schicht aus Feuchtigkeit sich auf ihrer Haut bildete. Plötzlich tauchte eine Silhouette durch den Nebel vor ihr auf. Jonas? Ihr Herz machte einen Sprung.
Aber es war nur ein Schatten, geformt von den wirbelnden Nebelschleiern und ihrem Wunsch, den jungen Mann lebend zu finden.
Hanna tastete nach ihrem Funkgerät, um den Zustand zu melden, als ein Geräusch sie aufschrecken ließ. Ein Rauschen, kaum mehr als ein Flüstern, durchbrach die stille Umklammerung des Waldes. Sie hielt inne, lauschte. Es kam und ging, wie ein kümmerlicher Atemzug der gefrorenen Erde.
„Jonas?“, rief sie, ihre Stimme klang hohl und verloren zwischen den stummen Bäumen. Keine Antwort folgte, nur das unbehagliche Gefühl, sie sei nicht allein. Der Nebel verdichtete sich, knisternde Kälte kroch in ihre Glieder.
Ein Gedanke drängte sich Hanna in den Vordergrund, jener unausgesprochene Verdacht, den sie lange ignoriert hatte. Was, wenn es mehr war als ein bloßes Verirren im Wald?
„Kommissarin, Sie sollten nicht allein hier draußen sein“, hörte sie eine Stimme hinter sich. Jonas’ Bild verklang aus ihrem Kopf, als sie sich umdrehte. Mit langsamen Schritten kam Frau Irma den Pfad entlang. Ihr Mantel schien aus dem Dunkel gewebt, ihre Augen blitzten im Schatten ihrer Kapuze.
„Ich kenne diesen Wald besser als irgendjemand anders“, sagte Irma und ihre Stimme war ein alter Wind zwischen den kahlen Ästen.
Hanna wusste um die Geschichten. Frau Irma, die allein lebte, seit ihr Mann vor vielen Wintern ebenso verschwand. Die Dörfler mieden den Wald in dieser Jahreszeit, glaubten an alte Mythen und neue Gefahren.
„Jonas kam oft zu mir“, begann die alte Frau leise. „Er suchte… Stille.“ Sie hielt inne und sah Hanna an. „Es gibt Dinge, die der Wald nicht erzählt.“
Hanna fühlte, wie die Wahrheit sich an ihr Bewusstsein heranpirschte, ein ungewollter Gast, aber unumgänglich.
„Er hat nicht nur den Wald gesucht“, sagte Irma schließlich. Ihre Stimme sank zu einem wispernden Hauch. „Er hat sich darin gefunden, und nun hört er auf das, was nur zu ihm spricht.“
Hanna verstand. Die Unruhe in ihrer Brust löste sich langsam auf. Nicht alle suchten Antworten in der Stadt, manche, wie Jonas, fanden sie im Flüstern unter kahlen Ästen.
Sie nickte, ließ den Nebel die letzten Illusionen wegtragen. Jonas würde seinen Weg finden, dort, wo der Nebel ihm ein Zuhause bot.
Der Wald hüllte den ungelösten Fall in seine beruhigenden Schleier. Hanna ging zurück, vertrauend, dass der Nebel sprechen würde, wenn er so wollte.




