Ein Tor zwischen den Welten
Der Winter hatte die Stadt in ein weißes Tuch gehüllt, als Jonas und Liora sich vor der alten Bibliothek trafen. Der Atem der beiden verwandelte sich in kleine Wolken, während sie die knarrende Holztür öffneten und eintraten.
Die Bibliothek war verlassen, bis auf die flackernden Kerzen, die in ungleichmäßigen Abständen Schatten über die antiken Regale warfen. Ein schwerer Teppich schluckte das Geräusch ihrer Schritte, und ein eigenwilliger Geruch aus altem Papier und ein wenig Muffigstem hing in der Luft.
„Hast du den Spiegel schon entdeckt?“, fragte Liora flüsternd. Ihre Stimme schien die Stille der Bibliothek kaum zu stören.
Jonas schüttelte den Kopf, die Hände tief in seine Taschen vergraben, während er sich umsah. Kerzenschein tanzte an den Wänden und reflektierte auf einem merkwürdigen Punkt in der Dunkelheit. Da, am Ende eines schmalen Ganges, stand er: ein großer, goldener Spiegel mit kunstvoll verziertem Rahmen.
Liora zog Jonas mit sanftem Druck näher heran. „Der ist unglaublich“, sagte sie leise.
Die Oberfläche des Spiegels schimmerte ungewöhnlich, als würde er die Dämmerung einer anderen Welt einfangen. Jonas trat näher, seine Neugier geweckt; seine eigene Reflexion wirkte nicht nur verwischt, sondern von einem unbestimmten, warmen Licht umhüllt.
„Ich habe Geschichten über solch einen Spiegel gehört“, sagte eine Stimme von hinten. Jonas und Liora fuhren herum und sahen einen Mann, der aus den Schatten trat. Sein graues Haar war wie eine Krone um seinen Kopf gelegt, und seine Augen glitzerten weise.
„Ich bin Aris, der Wächter dieser Bibliothek“, stellte er sich vor. „Es heißt, dieser Spiegel kann mehr als nur das Abbild der Gegenwart zeigen. Er ist ein Tor zu längst Vergessenem, zu Zukünftigem.“
Liora sah Jonas an, ihr Herz begann schneller zu schlagen. „Ist das wahr? Kann er uns wirklich…“
„Das kann nur der erfahren, der den Mut hat, wirklich hinzusehen“, erwiderte Aris mit einem geheimnisvollen Lächeln.
Fasziniert begannen sie, den Spiegel genauer zu betrachten. Dabei verlor Jonas das Gefühl für Zeit und Ort. Es war, als würde der Spiegel ihn zu sich rufen, flüstern von einer Welt jenseits der ihren.
„Wir sollten es versuchen“, sagte Liora entschlossen und trat näher an den Spiegel heran. Jonas zögerte, doch dann folgte er ihr – angezogen von der sonderbaren Energie, die der goldene Rahmen ausstrahlte.
Aris beobachtete die beiden mit einem forschenden Blick. „Nehmt euch in Acht, eine Reise durch die Zeit ist niemals ohne Risiko“, warnte er.
Trotz der Warnung reichte Liora Jonas die Hand, und Gemeinsamkeit überwog die Zweifel. Die Oberfläche des Spiegels begann zu wabern, als habe man die Tinte eines Tintenfisches ins Wasser gegossen, und zog sie schließlich in sich hinein.
Die Lichter der Bibliothek verblassten, und als sie die Augen wieder öffneten, standen sie in der gleichen Bibliothek – aber in einer anderen Zeit. Ein sanfter Schneefall fiel durch die hohen Fenster, und die Luft war frisch, erfüllt von einem Hauch Geheimnis. Die Kerzen hatten sich in Öllampen verwandelt, deren Licht sich auf die gleiche Weise in dem goldenen Spiegel spiegelte, der sie hereingezogen hatte.
Es gab Menschen damals, Leser, die ruhig durch die Reihen schritten. Die beiden fühlten sich wie Eindringlinge, aber zugleich als Teil einer unsichtbaren Verbindung.
„Vielleicht ist das die Vergangenheit“, flüsterte Liora mit einem feierlichen Ausdruck in ihren Augen.
Jonas nickte langsam. „Oder die Zukunft, wo die Menschen die Ruhe und den Frieden, den eine Bibliothek bietet, wieder zu schätzen wissen.“
Sie erkundeten die Bibliothek, fanden alte Bücher, die längst verloren geglaubte Weisheiten enthielten. Jeder Gedanke daran ließ sie in eine Art stiller Ehrfurcht verfallen. Hier wurde nicht nur die Zeit verstanden, sondern auch das Wesen der Ewigkeit und der Menschen, die darin lebten.
Als die Müdigkeit ihre Körper beschlich und der Nebel begann, das Bild um sie herum zu verflüssigen, spürten sie, dass ihre Reise enden sollte. Doch jedoch versprach der goldene Spiegel, sie erneut dorthin zu führen, wo Zeit nur ein Gewebe der Wahrnehmung war.
Mit einem letzten tiefen Blick verabschiedeten sie sich von dieser Welt, den Willen, gelesenes Wissen zu bewahren, in ihren Herzen tragend. In dem Moment, als ihre Hände die Oberfläche des Spiegels und die raue Realität wieder fühlten, waren sie zurück in der kalten, vertrauten Stille der Bibliothek.
Aris stand da, fragte nicht, erwartete keine Erklärungen. „Habt ihr gefunden, wonach ihr gesucht habt?“ Seine Frage klang wie ein Angebot an Erkenntnis.
„Mehr als das“, antwortete Liora sanft. „Schönheit. Und Verständnis.“
Jonas sah durch das Fenster hinaus, auf den winterlichen Mantel der Stadt. Nichts hatte sich geändert, und doch wusste er tief im sich, dass in ihm alles anders war.
Zusammen verließen sie die Bibliothek, Hand in Hand, mit einem Wissen, das ihre Herzen weit öffnete, bereit, die Wunder der Welt neu zu entdecken, jeden Tag aufs Neue.




