Im Garten der Stille
Vorlesezeit: ca. 11 Minuten
Im zarten Licht des Frühlingsmorgens, als die ersten Sonnenstrahlen über die Bergkämme krochen, wehte ein kühler Hauch über die stille Wiese. Der Morgennebel hing über den Gräsern, denen glitzernde Tautropfen Diamanten gleich auflagen. Hier auf dieser einsamen Bergwiese fand Anna eine längst verlorene Ruhe, die in der Hektik des Alltags kaum noch zu finden war.
Anna war von ihrer Freundin Theresa eingeladen worden, ein paar Tage im Haus ihrer alten Nachbarin Rosa zu verbringen. Rosa war eine verschrobene, aber freundlich gesonnene alte Dame, die in den umliegenden Dörfern für ihre Heilkünste und ihren tiefen Sinn für Natur bekannt war.
„Hier ist nichts weiter als die Gegenwart“, pflegte Rosa zu sagen, wenn sie Anna und Theresa durch ihren verwunschenen Garten führte. Es war ein Garten, der nicht nach den Regeln menschlicher Ordnung gestaltet war, sondern nach den Gesetzen der Natur.
Der Anblick des nebelverhangenen Gartens heute Morgen ließ Anna tief durchatmen. Mit Theresa an ihrer Seite folgte sie dem sanften Pfad aus Gras und Moos, der sich wie eine grüne Schlange durch den Garten wand. Die Luft war frisch, erfüllt vom Duft feuchter Erde und Blüten, die langsam aus ihrem Winterschlaf erwachten.
„Lass uns eine Weile hier sitzen“, schlug Theresa vor und zeigte auf eine alte Steinbank, die unter dem ausladenden Ast einer uralten Buche stand. Anna nickte und ließ sich nieder.
Der Nebel legte sich wie eine dämpfende Decke über den Garten. Die Stille war fast greifbar und wärmte innerlich. Anna schloss ihre Augen und hörte das leise Plätschern eines kleinen Baches, der sich versteckt durch den Garten schlängelte. Die Welt um sie herum verströmte eine tiefe Gelassenheit, die sie lange nicht gespürt hatte.
„Es ist sonderbar“, begann Anna leise, „wie schnell man die Verbindung zur Stille verliert. Alles um uns herum dröhnt und drängt immerzu.“
Theresa lächelte wissend. „Genau deshalb bin ich so gerne hier. Es lässt einen die Dinge wieder klarer sehen.“
Während sie sprachen, trat Rosa aus dem Haus, eine Gießkanne in der Hand, das weiße Haar im Morgenlicht schimmernd. Sie hob die Hand zum Gruß und kam zu ihnen, die Augen durchdrungen von einem tiefen Verständnis.
„Bei jeder Begegnung in der Stille erhebt sich die Seele“, sagte sie mit ihrer warmen Stimme. „Es ist der Garten der Ruhe, der uns die Kraft gibt, das Leben auf eine sanfte Weise zu erdulden.“
Anna lächelte. „Es ist, als ob dieser Ort eine sanfte Hand über meine rastlosen Gedanken legte.“
Rosa nickte zufrieden. „Und so soll es sein, mein Kind. In der Natur und im Herzen des Gartens findest du die Kräfte, die du brauchst. Sie sind immer da.“
Der Tag schritt voran, und die Sonne schickte warme Strahlen über die Wiese, vertrieb die letzten Nebelschleier. Anna fühlte, wie mit dem Sonnenlicht auch ihre innere Unruhe wich. Die Blätter der Bäume rauschten leise im Wind und erinnerten sie an das Flüstern eines uralten Geheimnisses.
Theresa und Anna verbrachten den Nachmittag in Rosas Gesellschaft, sie sammelten Kräuter, deren Düfte betörend waren und saßen still beisammen, eine Harmonie der Gedanken, ungesprochen, aber stets gegenwärtig.
Als der Abend kam und der Himmel in sanften Rosa- und Goldtönen leuchtete, fühlte Anna eine tiefe Dankbarkeit. Sie war bereit, dem Chaos der Welt erneut zu begegnen, gestärkt durch die stille Kraft, die sie in diesem Garten der Ruhe gefunden hatte.
Auf dem Heimweg, als die Dunkelheit langsam über das Land zog, hörte sie noch immer das sanfte Rauschen des Baches in ihrem Herzen und wusste: „In der Ruhe wächst die Kraft.“




