Liebe zwischen den Zeilen
Vorlesezeit: ca. 12 Minuten
Die warme Nachtluft legte sich sanft auf die historische Altstadt Veronas. Es war ein Sommerabend, an dem die Zeit stillzustehen schien. Julia lehnte sich über das schmiedeeiserne Balkongeländer und konnte die weit entfernten Stimmen der Menschen auf der Piazza hören. Die Steine der Gebäude strahlten die hitzige Wärme des Tages ab, doch ein sanfter Windhauch ließ sie wohlig erschaudern.
Julia war zum ersten Mal in Verona, einer Stadt, deren Schönheit sie sofort in ihren Bann gezogen hatte. Ihre Augen glitten über die Dachziegel, die im Mondlicht glänzten, und blieben an einer Gestalt hängen, die ebenfalls das Geländer umriss, zwei Balkone weiter. Ein junger Mann, Leon, schaute gedankenverloren in die Sterne.
„Die Sterne scheinen uns begleiten zu wollen“, bemerkte Julia laut genug, dass ihre Stimme die kurze Distanz überbrückte. Leon drehte seinen Kopf und ein sanftes Lächeln erhellte sein Gesicht. „Vielleicht erzählen sie uns ihre Geschichten“, erwiderte er, seine Stimme ein weicher Bariton, der zwischen den Wänden widerhallte.
Zwischen ihnen lag die warme Nacht, erfüllt von den ungesagten Worten und dem lockenden Versprechen einer Geschichte ohne Anfang oder Ende.
Einer der Kellner, Marco, trat auf die kleine Terrasse, ein Tablett mit einem Glas Wein balancierend. „Ah, Signorina,“ sagte Marco, der die Gäste des kleinen Bed & Breakfast liebevoll umsorgte. „Ich bringe Ihnen den Chianti, wie versprochen.“
„Danke, Marco. Und vielleicht können Sie meinem Freund dort drüben auch ein Glas bringen?“ Julia nickte in Leons Richtung.
Der Kellner grinste einem Komplizen gleich, in dessen Augen das Wissen um die Magie solch zufälliger Begegnungen glänzte, und verschwand wieder im Inneren des Gebäudes, nur um kurze Zeit später mit einem zweiten Glas zurückzukehren.
Die Nacht schritt fort, und mit jedem Schluck aus den Gläsern schien die Entfernung zwischen den Balkonen zu schrumpfen. Unterhalten von Themen, die tief und flüchtig zugleich waren, tauschten Julia und Leon Geschichten aus, in denen sie sich verloren, nur um sich in den Augenblicken wiederzufinden, in denen der Mond die weißen Kuppen der Wolken küsste.
„Was zieht dich nach Verona?“ fragte Leon, als Stille ein kurzweiliges Band zwischen ihnen spannte.
„Die Schönheit der Stadt. Die Möglichkeit, jemanden wie dich zu treffen“, antwortete Julia mit einem Seufzer und einem Lächeln, das nicht nur ihre Lippen, sondern auch ihre Augen erreichte.
„Ich habe nichts Besonderes zu bieten als die unbedeutende Neugier eines Reisenden“, gestand Leon, einen Moment lang seine Selbstzweifel preisgebend.
„Doch du bist es, der mir die Sterne neu zeigt“, entgegnete Julia, „und das ist mehr, als ich erwartet hatte.“
Ihre Blicke verhakten sich in den geheimen Botschaften der Nacht, und Julia spürte, wie sich eine anhaltende Ruhe in ihr ausbreitete, als sei sie gerade eine der Geschichten, die sich dem Rauschen der Stadt entrissen hatte, um in der zeitlosen Verbindung zweier Seelen neu zu erblühen.
In den frühen Morgenstunden, als die Stadt langsam neu zu erwachen begann, verabschiedeten sie sich. „Ich hoffe, wir sehen uns wieder“, sagte Leon, seine Stimme fest, doch voller unbeschwerter Hoffnung.
Julia nickte und wusste, dass dieses „Wiedersehen“ vielleicht nie am selben Ort stattfinden würde, aber in ihren Herzen immerfort lebendig bleiben würde.
Die Sterne über Verona blickten auf die Stadt herunter, die langsam von einem zarten Blau durchzogen wurde, und schienen die unvergänglichen Geheimnisse zu bewachen, die zwischen den Zeilen einer stillen Sommernacht lagen.




