Reise im Kopf
Vorlesezeit: ca. 20 Minuten
Lina saß an diesem Winterabend in ihrem Wohnzimmer, umhüllt von der stillen Melodie des Regens, der sanft an die Fensterscheiben prasselte. Das Licht der Stehlampe tauchte den Raum in einen warmen, goldenen Schimmer, während außerhalb die Dunkelheit und Kälte des Winters unaufhaltsam regierten.
Mit einem Buch in der Hand, das sie jedoch nicht wirklich las, ließ sie ihre Gedanken treiben. Der Klang des Regens, ein stiller Begleiter, trug sie fort zu Orten, die sie nie erblickt, aber immer erträumt hatte.
Die Erzählerin, eine sanfte Stimme in ihrem Inneren, flüsterte Eindrücke von unberührten Landschaften, belebten Marktplätzen und stillen Ozeanen. ‘Schließe die Augen, Lina’, schien die Stimme zu sagen, ‘und lass dich von der Phantasie tragen.’
Lina gehorchte. In der Dunkelheit ihrer Lider bildete sich eine weite Wüste, golden unter einer gleißenden Sonne. Sie spürte die warme, trockene Luft auf ihrer Haut und den feinen Sand unter ihren Zehen. Die Wüste schimmerte wie flüssiges Gold, endlos und frei.
‘Komm’, flüsterte die Erzählerin, ‘hier bist du frei.’ Lina sog die Luft ein, obwohl sie wusste, dass sie immer noch sicher zuhause auf ihrem Sofa saß. Die Reisen im Kopf kannten keine Grenzen, sondern nur die Räume, die sie selbst kreierte.
Ohne Anstrengung wechselte die Szenerie zum staubigen Markt einer kleinen, lebhaften Stadt. Enge Gassen schlängelten sich wie Labyrinthe durch die alten Gebäude, und der Duft von Gewürzen mischte sich mit der warmen Luft. Menschen gingen geschäftig ihrem Tagewerk nach, während Händler lauthals ihre Waren anpriesen.
Lina fühlte sich verbunden mit der geschäftigen Energie dieser unbekannten Welt, vergass für einen Moment die Einsamkeit des echten Lebens. Sie konnte Teil der Masse sein oder sich als Beobachterin im Schatten halten, ganz nach Belieben.
Ein leises Seufzen entwich ihren Lippen, und ohne Eile öffnete Lina die Augen, um zurückzukehren in die sichere, vertraute Umgebung ihres Wohnzimmers. Der Regen fiel noch immer in gleichmäßiger Melodie, gleichgültig und doch vertraut. Die Uhr an der Wand tickte stetig, und die Kälte des Winters blieb dort, wo sie hingehörte – außerhalb der Fensterscheibe.
Es war ein befreiendes Gefühl, zu wissen, dass man eine ganze Welt an Orten, Geschichten und Möglichkeiten nur einen Gedanken entfernt hatte. Fast reichte es, das Wissen um diese Möglichkeit zu besitzen, um inneren Frieden zu finden.
Lina lehnte sich zurück, ihr Blick wanderte zu einem kleinen Bild an der Wand, das sie von einem vergangenen Urlaub behalten hatte. Es zeigte nur einen unscheinbaren Strand, doch in diesem Moment bedeutete es die Freiheit, alles zu sein und überall zu existieren. Eine Erinnerung daran, dass es nicht immer der reale Ort war, der zählte, sondern das Gefühl, das er auslöste.
Die Erzählerin in ihrem Inneren hatte recht gehabt. Manchmal genügte ein Gedanke, um frei zu sein. Lina ließ den Abend ruhig ausklingen, dankbar für die leise Reise in die Unendlichkeit ihrer Vorstellungskraft.
Der Regen sang weiter sein Lied, und Lina, umgeben von der sanften Wärme ihres Zuhauses, schloss glücklich die Augen. Die Gedanken, so wusste sie nun, konnten weiter fliegen, wohin auch immer sie wollte.




