Schnee über Elyndar
Die Kälte kroch selbst in die dunkelsten Ecken der magischen Stadt Elyndar, füllte sie mit einem stillen, eisigen Atem. Liora zog den Schal enger um ihren Hals und beobachtete die dichten Schneeflocken, die sich langsam auf die Runenbrücken senkten, die das Herz der Stadt schmückten. Diese Brücken, von ihren Vorfahren aus glattem Stein gemeißelt und mit uralten Symbolen verziert, erzählten Geschichten, die die Stille durchbrachen – Geschichten von Kraft, Magie und verloren gegangenen Zeiten.
Liora hatte nie wirklich an die alten Geschichten geglaubt. Sie waren der Stoff, aus dem die Träume von Kindern gemacht waren. Doch je tiefer sie in das gefrorene Netz der Stadt vordrang, desto mehr spürte sie das pulsierende Erbe, das darauf wartete, von ihr erkannt zu werden.
Eine kühle Brise wehte durch die Straßen und trug das ferne Lachen fremder Stimmen mit sich. Liora folgte dem Klang, der sie zwischen die imposanten Säulen der Hauptbrücke führte. Hier fand sie Cael, der ebenso verloren in der Betrachtung der Schneeflocken wirkte.
“Schön, nicht wahr?” sagte er, ohne den Blick zu ihr zu wenden. Seine Stimme war tief und ruhig, wie das Knirschen von frischem Schnee unter schweren Stiefeln.
“Ja”, antwortete Liora leise, “als würde die Stadt unter all diesem Weiß neu geboren.”
Cael drehte sich zu ihr und schenkte ihr ein verschmitztes Lächeln. “Oder als ob sie ihre Geheimnisse noch tiefer verbergen würde. Du bist Liora, nicht wahr? Die Erbin der Alten Wege.”
Die Worte trafen Liora unerwartet. “Ich… ich bin einfach nur Liora”, erwiderte sie, unsicher, warum ihm ihr Name etwas bedeuten sollte.
“Erbe ist nicht immer sichtbar, nicht direkt zu greifen”, sagte Cael, während er eine Hand sanft über die Runenstrukturen der Brücke gleiten ließ. “Diese Stadt lebt, sie denkt und atmet. Sie erinnert sich an alles, was war, und sehnt sich danach, dass wir uns auch erinnern.”
Neugierde erwachte in Liora. “Wieso jetzt? Wieso hier?”
Cael zog einen kleinen Runenkristall aus seiner Tasche und hielt ihn gegen das Licht der bleichen Sonne, die durch die Wolkendecke brach. “Dein Zauber, Liora, ist wie ein Funke. Er weckt, was geschlummert hat. Die Stadt ruft danach, durch dich zu sprechen.”
Im Lauf der nächsten Tage kehrte Liora immer wieder an diese Stelle zurück, stets im Gespräch mit Cael. Er schien mehr über sie zu wissen, als ihr lieb war, doch sein ruhiger Blick beruhigte sie. Unter seiner behutsamen Führung begann sie, die Geschichten der Stadt zu entziffern. Unter jeder Schneeschicht fand sie neue Symbole und Verheißungen.
Eines Abends, als der Mond die Brücken silbern färbte, fühlte Liora, wie die Runen unter ihren Fingern warm auf dem kalten Stein wurden. Es war, als ob eine fremde, alte Musik in der Luft lag.
“Die Stadt antwortet”, sagte Cael leise, seine Augen von einem Licht erfüllt, das so alt war wie die Zeit selbst.
Liora spürte eine Welle von Erinnerungen, die nicht ihre eigenen waren. Bilder von Menschen, die sie nie gekannt hatte, von Feiern und von Trauer zogen an ihrem inneren Auge vorbei. Sie fühlte die Verantwortung, die mit diesem Erbe verbunden war, die Wurzeln ihrer Existenz, die weit in der frostigen Geschichte Elyndars hinab reichten.
Cael reichte ihr seinen Runenkristall, dessen Glitzern wie ein Signal zwischen den beiden schien. “Dieser gehört dir, wie auch die Geschichte Elyndars dein Eigen ist. Fülle ihn mit deinen Träumen, Liora. Lass sie Teil dieser Stadt werden.”
Mit zitternden Händen nahm Liora den Kristall. “Werde ich jemals die Geheimnisse verstehen?” fragte sie, die Zweifel in ihren Worten jedoch sanft durch Hoffnung abgefedert.
Cael legte eine Hand auf ihre Schulter. “Wir alle sind nur Staub in der Tiefe der Ewigkeit. Aber manchmal, Liora, schaffst du es, dass der Staub zu leuchten beginnt.”
Die Behaglichkeite einer neu gefundenen Verbundenheit erwärmte sie, während sie in der Stille des Schneefalls neben Cael stand. Elyndar, in seiner weißen Magie verborgen, umgab sie mit einer allumfassenden Stille, die dennoch lauter als alles schien.
Und so zogen sie ihre Schritte fort von den geheiligten Brücken, hilflos geborgen in einer Stadt, die wartete, erzählte und nie, nie vergaß.




