Spuren im ersten Schnee
Der Winter hatte über Nacht seinen weißen Schleier über die Stadt gelegt. Die Dächer der Mietblocks strahlten im morgendlichen Licht, und der Innenhof lag still und unberührt. Jedenfalls schien es so, bis Kommissarin Herz und Kollege Malik den Ort erreichten.
Herz zog ihren Mantel enger um sich, als sie die frische Kälte spürte, die durch die Straßen schnitt. “Hier muss es gewesen sein”, sagte sie, während sie ihre Augen über das stille Panorama wandern ließ. Der Schnee zeigte noch keine Anzeichen von fortlaufendem Leben – bis auf die Spuren, die von der Tiefgarage ausgingen.
Malik, der immer einen Schritt hinter ihr blieb, nickte nur bevor er vorwärts schritt, um die Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen. Der Innenhof erschien so friedlich, dass es schwer zu glauben war, hier könnte etwas Abgründiges geschehen sein.
“Der Wachmann berichtet, er habe kurz nach Mitternacht Geräusche gehört. Stimmen, die leiser wurden, bis nur noch das entfernte Dröhnen einer Motorhaube zu hören war”, erinnerte sich Herz. Sie hockte sich nieder und betrachtete die Fußabdrücke im Schnee, die vom Eingang der Tiefgarage über den Hof führten.
“Es sind zwei Personen”, sagte sie schließlich, mehr zu sich selbst als zu Malik. “Der eine hatte eilige, große Schritte. Der andere… kleinere Abdrücke, wie von einer Frau.”
Malik bückte sich neben sie. “Die größeren Abdrücke wirken schwerer, mit einer leicht unregelmäßigen Abrollung. Vielleicht jemand, der hinkt?”
Herz nickte. “Das muss weiter überprüft werden.” Doch innerlich setzte sich eine Vermutung fest. Sie hatte diese Art von Spuren schon einmal gesehen. Ein Anflug von Unruhe stellte sich ein, während sie versuchte, die Impulsivität aus ihren Gedanken zu verbannen.
Gemeinsam folgten sie den Spuren, die sich den Flur entlang fortsetzten. Sie führten lediglich in den Fahrstuhl, doch Herz bemerkte ein Detail: ein Schatten auf der Treppenstufe deutete darauf hin, dass jemand den Handlauf berührt hatte. Eine winzige, unauffällige Berührung einer herausragenden Struktur – typisch für jemanden, der unsicher auf den Beinen war. Sie drehte sich zu Malik um, doch der schien dieselben Schlüsse bereits gezogen zu haben.
Plötzlich stießen ihre Einblicke aufeinander, während sie sich in einem stillen Einverständnis befanden. Das unaufhörliche Surren der Fahrstuhltüren begleitete ihre Gedanken wie ein prophetisches Raunen. “Lass uns die Sicherheitskameras prüfen”, schlug Malik vor.
Doch Herz zögerte. Ihr Gefühl sagte ihr, dies sei nicht alles, was es zu entdecken gab. Die Geschichte war nicht abgeschlossen, nicht mit den Spuren allein.
Während er die Kameraaufzeichnungen prüfte, entschied sich Herz für eine andere Herangehensweise. Sie folgte ihrem Instinkt und wollte mehr über diese Mietblockgemeinschaft erfahren. Im Gespräch mit den Nachbarn offenbarte sich nach und nach ein undurchsichtiges Geflecht aus alltäglichen Anliegen und verschwiegenen Kapiteln.
Eine Frau im Obergeschoss, Augen müde mit Geheimnissen, sprach von dem Paar, das in der fünften Etage wohnte. “Sie gingen in der letzten Nacht weg, schnell und leise. Ich dachte, es wäre nichts ungewöhnliches. Doch der Mann humpelt…”, flüsterte sie, mehr zu sich selbst als zu Herz.
Zurück im Kommissariat, fanden Herz und Malik beim Überprüfen der Aufzeichnungen, was sie vermuteten: zwei Gestalten, eine groß, eine kleiner, die in die Nacht verschwanden. Herz begann die Bilder abzugleichen, unberührt vom flackernden Monitorlicht-rhythmus. Jedes Bild, jedes Mosaikstück fügte sich nach und nach zusammen, was zunächst chaotisch schien.
Die Wahrheit lag nun klar vor ihnen: Die Spuren erzählten mehr, als die stillen Straßen rechtfertigen konnten. Doch es war Malik, der letztlich sprach: “Sie sind wiedergekommen. Vielleicht aus dem Grund, den wir noch nicht wissen. Vielleicht aus Liebe, Wut, Angst. Jeder Schritt, den wir hier sahen, verdreht die Wahrheit ein wenig mehr.”
Herz nickte, eine subtile Akzeptanz ihrer Gedanken. Manches war unwiderlegbar, wie die sanfte Kälte des ersten Schnees, der keine Geheimnisse bewahrt. “Wir müssen es bis zum Ende verfolgen”, murmelte sie, als sie zusammen die Treppe in die Kälte hinab gingen, alles im Wissen, dass die Spurensuche sie tiefer führen würde als je vermutet.
Der Schnee hatte sie aus der Selbstverständlichkeit des Alltags hinausgezogen, um jene Schatten zu offenbaren, die in jeder Hülle lauern.




