Stadt der leisen Runen
Der Sommerabend legte sich träge über die Altstadt, die von den bürokratischen Händen der Moderne weitgehend verschont geblieben war. Es war die Stunde, in der die Straßenlaternen ihr weiches Licht warfen und die nassen Pflastersteine wie glänzende Perlen wirkten, die sich durch die engen Gassen schlängelten.
Inea schlenderte am Schaufenster eines Antiquitätenladens vorbei und blieb stehen, als ihr Blick auf die verzierten Regentafeln fiel, die an den Ecken der Häuser angebracht waren. Auf ihnen waren merkwürdige Zeichen zu erkennen, verblasst vom Regen, doch mit einer Anziehungskraft versehen, die sie nicht vollständig erklären konnte.
Bei einem dieser Häuser, aus dem süßlicher Thymianduft drang, hielt sie an. Die Fensterläden knarrten im leichten Wind, als ein Mann aus dem Schatten der Eingangstür trat. Es war Varek, ein junger Antiquar, dessen Augen ebenso neugierig funkelten wie Ineas.
“Interessierst du dich für die alten Zeichen?” fragte er mit einer Stimme, die sowohl rau als auch einladend klang.
Inea nickte und strich fast unbewusst mit den Fingerspitzen über die Runen. “Ich frage mich, was sie bedeuten.”
Varek trat näher, betrachtete die Zeichen, die im schwindenden Licht des Tages zu erwachen schienen. “Legenden erzählen von einer Sprache der Zugehörigkeit. Wer sie versteht, sieht die Stadt mit anderen Augen.”
Inea lächelte leicht, unsicher, ob er scherzte. Doch etwas in seinen Augen versprach Wahrhaftigkeit. “Kannst du sie lesen?”
Er zuckte mit den Schultern. “Vielleicht ein wenig. Aber warum entdecken wir sie nicht zusammen?”
Sie folgten dem sanften Schwung der Gasse, die in ein kleines, vergessenes Viertel führte. An einer alten Kapelle hielten sie inne; die Zeit hatte ihre Mauern altern lassen, doch hier leuchteten die Runen in einem silbrigen Schein, als liebkose der Mondstein sie direkt.
„Diese hier“, begann Varek, „erzählen von verlorenen Wegen, aber auch von Anfängen, die wir kaum erahnen können.“
Inea kniete sich hin, fühlte die Kühle der Steine unter ihren Knien. „Ich frage mich, wie lange sie hier schon sind. Vielleicht seit Jahrhunderten.“
„Oh ja,“ sagte Varek, während er sich neben sie setzte, „und wie viele Menschen an ihnen vorbeigegangen sind, ohne ihren Ruf zu hören.“
Sie saßen dort, vertieft in die subtilen Geschichten, die die Zeichen erzählten, und die Nacht senkte sich allmählich über die Stadt. Varek begann zu sprechen, fast wie im Traum, und Inea folgte dem Fluss seiner Worte, als wären sie verborgene Pfade, die sich in die Erinnerungen der Steine webten.
Die Uhr des Kirchturms schlug Mitternacht, als ein sanfter Regen einsetzte, doch die beiden Liebenden bemerkten es kaum. Ein Lächeln huschte über Ineas Gesicht. Die Welt schien in diesem Moment zusammengewoben zu sein aus Geschichten, die nur darauf warteten, erzählt zu werden.
Als sie die Stadt wieder wachwerden sahen, fühlten sie sich nicht nur als Beobachter, sondern als Teil eines Gemäldes, das ständig weiter malte. Im ersten Licht der Morgendämmerung flossen die Runen vor ihren Augen zusammen, hinterließen ein Gefühl der Zugehörigkeit, das sie beide nicht mehr loslassen würde.
„Ich denke, ich verstehe,“ flüsterte Inea, mehr zu sich selbst als zu Varek. „Wer liest, gehört dazu.“
Ein stillschweigendes Versprechen in der Luft, dass sie die Stadt der leisen Runen nie wieder mit denselben Augen betrachten würden.




