Wenn Nacht und Nähe sich begegnen
Der Winter hatte die Altstadt fest im Griff. Der Schnee bedeckte die alten Pflastersteine mit einer leisen, weißen Decke und die Luft war erfüllt von einem eisigen Knistern. Auf den Dächern funkelten Lichterketten wie Sterne und Laternen warfen goldene Schatten auf die schmalen Gassen.
Miriam zog ihren Schal enger um ihren Hals, während sie durch die Menschenmenge schlenderte. Das Lichterfest war ihre liebste Tradition im Jahr. Es war, als ob die ganze Stadt in warmes, lebendiges Licht getaucht wurde, ein Anker der Beständigkeit in ihren Erinnerungen.
David, der etwas abseits stand, beobachtete fasziniert das Treiben. Er hatte keinen konkreten Grund hier zu sein, außer einem vagen Gefühl, dass etwas in der Luft lag – eine Erwartung, die er nicht benennen konnte. Vielleicht war es der Zauber der funkelnden Lichter oder der Gedanke an all die Geschichten, die in solch einem Rahmen geschrieben werden könnten.
Die Musik kam zu ihm wie ein ferner Gruß, und instinktiv folgte er den Melodien. In einer kleinen, von Fackeln gesäumten Ecke saß ein Mann mit einer Geige. Theo war sein Name, das wusste er, weil jemand aus der Menge ihn darum bat, einen bestimmten Song zu spielen.
Miriam entdeckte ebenfalls die Quelle der Musik und blieb, wie viele andere, um zuzuhören. Theo’s Spiel war betörend, die Töne tanzten in der kalten Winterluft, verbanden die Menschen in einem gemeinsamen, wortlosen Erlebnis.
Zwischen zwei Stücken blickte Theo auf und seine Augen trafen Miriams. Für einen kurzen Moment schien alles um sie herum still zu stehen, als ob der Atem der Stadt innehielt. Davids Blick wanderte von Theo zu Miriam, und er sah das gleiche sanfte Erstaunen in ihrem Gesicht.
„Die Musik bringt uns zusammen“, sagte David, als Miriam neben ihm stehen blieb, ihre Finger einen Becher mit heißem Tee umklammernd.
„Ja“, antwortete sie, ohne ihren Blick von der offenen Geige abzuwenden. „Es ist so, als ob jedes Jahr die gleichen Melodien eine neue Geschichte erzählen.“
„Vielleicht sind es nicht die Melodien, sondern die Menschen, die sich ändern“, meinte David und lächelte.
Miriam drehte sich zu ihm um. Sein Gesicht, halb im Schatten, halb im Licht, erschien ihr vertraut und fremd zugleich. Sie dachte an die jährlichen Besuche zum Lichterfest, die traditionellen, aber auch die unerwarteten Begegnungen.
Theo begann ein neues Stück, dessen Noten wie ein zarter Hauch durch die Gassen strömten. Es war eine Melodie von Sehnsucht und Hoffnung, und Miriam fühlte, wie das Eis um ihr Herz zu tauen begann.
„Jedes Jahr“, begann sie zögernd, „komme ich hierher, um mich an die Dinge zu erinnern, die wichtig sind.“
„Wie dieses Fest?“, fragte David, nun ganz in ihre Richtung gedreht.
„Wie dieses Fest“, wiederholte sie, „aber auch die Menschen, die ich getroffen habe.“ Sie schenkte ihm ein sanftes Lächeln.
In diesem Moment fiel sanft Schnee vom Himmel, die Flocken schwebten zwischen den Lichtern und verschmolzen mit der Wärme des Augenblicks. Sie standen einander gegenüber, die Welt um sie herum eine unscharfe, funkelnde Kulisse.
Theo endete das Stück und verneigte sich lächelnd vor der kleinen Menge, die anerkennend applaudierte. Dann fing er ihren Blick auf und nickte wissend, als ob er die Bedeutung verstanden hatte, die sich in den Herzen der beiden neu gebildet hatte.
„Ich glaube“, sagte David leise, „dass das Schicksal einen eigenwilligen Sinn für Humor hat.“
„Richtig“, antwortete Miriam, „aber es bringt die Menschen zusammen, die bereit sind zu sehen.“
Dabei ließ sie ihren Blick weder von den Lichtern noch von ihm abwenden. Die Melodie des Lichterfests verhallte langsam, aber das Gefühl der Zusammengehörigkeit verharrte.
Sie verabschiedeten sich von Theo, dankten ihm für seine Musik und begannen, die Gasse entlangzugehen. Der Schnee landete in Davids Haar, während Miriam ihren Arm unter seinen legte, und sie wussten beide, dass diese Begegnung, dieser Klang der Laternen, der Auftakt zu etwas Neuem sein könnte.




