Wie Clara sich neu sah
Clara saß auf dem alten Sessel, der am Fenster der kleinen Altbauwohnung stand. Es war Abend, die Wintersonne war längst untergegangen, und nur das warme Licht der Straßenlaternen erleuchtete das Zimmer. Die Wände warfen lange Schatten, die sich mit den Erinnerungen der letzten Monate mischten.
Jonas, ihr Partner, hatte die Wohnung vor einer Stunde verlassen. Der Klang seiner Schritte auf dem knarrenden Holz war der letzte, den sie gehört hatte, bevor sie in die tiefere Stille sank. Sie liebte ihn, ohne Frage, aber irgendetwas nagte an ihr, etwas, das sich nicht in Worte kleiden ließ.
Ein leichtes Zittern durchfuhr Clara, als sie aufstand und an den großen Spiegel trat, der im Flur hing. Sie sah eine Frau, die sie kannte und doch nicht mehr ganz erkannte. Die Jahre waren ins Land gezogen und hatten ihre Spuren hinterlassen, nicht nur auf ihrer Haut, sondern auch in ihrem Herzen. Das Licht warf ein gewagtes Spiel aus Schatten und Wahrheit über ihr Gesicht.
‘Was siehst du, wenn du in den Spiegel blickst?’ hatte ihre Therapeutin Eva kürzlich gefragt. Eine Frage, die leicht zu stellen und schwer zu beantworten war. Bis heute vermied Clara, darüber nachzudenken, aber nun schien der Moment gekommen, an dem sie nicht mehr weglaufen konnte.
‘Ich sehe eine Fremde’, murmelte sie, fast unhörbar gegen den Wind der Gedanken, der ihr Innerstes durchfegte.
Kalt war der Boden unter ihren Füßen, als sie an der Oberfläche ihrer Selbst entlangschlitterte, tiefer grabend, als sie es je gewagt hatte. Claras Blick glitt durch den Raum, während Erinnerungen an Momente mit Jonas durch ihre Sinne schossen. Die alten Filmabende, die gemeinsamen Winterspaziergänge, das Lachen und die Umarmungen. Sie hatte einen Teil ihrer selbst in diesen Erinnerungen versteckt und das Gesicht verloren, das sie nun im Spiegel zu erkennen glaubte.
Der Schnee begann draußen leise zu fallen, dicke Flocken, die alles in eine blendend weiße Unschuld zu hüllen schienen. Clara nahm dies als ein Zeichen, ein sanftes Zurufen der Welt, dass es Zeit war, diesen Schleier zu durchbrechen.
Die wärmende Glut einer neu entfachten Motivation durchflutete sie. Mit einem tiefen Atemzug entschloss sie sich, der Einladung der Stille zu folgen, die Eva ihr gegeben hatte. Sie legte ihre Hände auf den Rahmen des Spiegels, die Kälte wärmend, die sie durchströmte. In ihrer Reflektion sah sie nicht mehr nur eine Fremde. Sie sah die Möglichkeit, zu wachsen, zu heilen, sich neu zu finden.
Als Jonas zurückkehrte, fand er Clara nicht mehr in ihrer Traurigkeit gefangen, sondern in einem stillen Dialog mit sich selbst. Er blieb im Türrahmen stehen, beobachtete sie, wie sie mit einer neuen Klarheit in das Glas blickte. Die Aura der Altbauwohnung, umhüllt von Winter und Erinnerung, war Zeuge ihrer Veränderung geworden.
Clara drehte sich zu ihm um und lächelte, echt und unverstellt. Sie spürte, dass sie bereit war, das anzunehmen, was das Leben ihr bot, mit all seinen Höhen und Tiefen.
‘Ich glaube, ich bin da’, flüsterte sie, mehr zu sich als zu ihm. ‘Ich sehe mich wirklich.’ Jonas trat näher, seine Wärme erhellte den Schatten um sie herum.
‘Das habe ich die ganze Zeit gesehen’, sagte er leise und umarmte sie, das Echo eines Versprechens, das erst jetzt seine Form fand.
Das Licht im Spiegel zeigte Clara nicht nur, wer sie war, sondern auch, wer sie sein könnte, wenn sie den Mut hatte, sich selbst anzunehmen. Der Winterabend legte sich über die Stadt, still und friedlich, als ob er den Anfang einer neuen Jahreszeit der Seele begrüßen würde.




