Wie kleine Schritte Großes verändern
Vorlesezeit: ca. 11 Minuten
Der Sommer lächelte durch die großen Fenster des Büros und legte einen warmen Schimmer auf die Tische. Sina saß an ihrem Schreibtisch, umgeben von dem leisen Murmeln tippender Kollegen und dem kaum hörbaren Summen des Kühlgeräts, das in regelmäßigen Abständen ansprang. Ihr Blick wanderte langsam zu dem roten Notizbuch, das unauffällig am Rand ihres Schreibtisches lag, als wäre es Teil der Dekoration.
Es war ein Geschenk ihrer Mentorin Clara, die im letzten Jahr in den Ruhestand gegangen war. Clara hatte es Sina in ihrem letzten gemeinsamen Meeting überreicht mit den Worten: “Schließlich machen die kleinen Schritte den Unterschied.” Seitdem lag es da, unberührt, als stille Zeugin einer Zeit voller Ratschläge und aufmunternder Worte. Sina hatte lange überlegt, es zu verwenden, aber die Angst, unbedeutende Gedanken hineinzuschreiben, hielt sie zurück.
Heute jedoch war etwas anders. Vielleicht war es das Licht, vielleicht das leise, einladende Flüstern der Papierblätter, als Sina das Notizbuch öffnete. Spontan schrieb sie den Gedanken nieder, der wie ein Sonnenstrahl durch ihre Gewohnheitswolken brach: “Was wäre, wenn…”
Der Satz stand da, fast allein, umgeben von so viel Raum für Weiteres. Sie konnte die Worte spüren, wie sie sich ineinander verflochten und Mengen an Möglichkeiten schufen. Im Hintergrund summte das Café im Erdgeschoss des Gebäudes, das lebendige Treiben vermischte sich mit dem Kaffeeduft, der durch die Lüfte schwebte.
Nach ihrer Arbeit machte sich Sina auf den Weg dorthin. Das Kaffeehaus war voller Menschen, die nach Momenten der Ruhe oder einem Energieschub suchten. Sie fand einen freien Tisch nahe der Glasfront und nahm ihr Notizbuch hervor, bereit, weiterzudenken. Die warme Luft war schwer vom Aroma frisch gebrühten Kaffee, als Max sich an ihren Tisch setzte. “Ich habe dich in Gedanken vertieft gesehen”, lächelte er.
Max, ein alter Freund und Kollege, strahlte eine angenehme Gelassenheit aus, die Sina immer beneidete. Sie lächelte verlegen zurück und erzählte ihm von Clara und dem Notizbuch. “Schreib es einfach auf, was immer kommt,” schlug er vor und fixierte sie mit einem Blick, der mehr versprach als bloße Alltagsfloskeln. Sein Vertrauen in das, was ungesagt, aber gefühlt war, inspirierte sie.
Und so begann Sina zu schreiben. Über ihre kleinen Wünsche und großen Träume, über die zarten Zweifel, die Parkbänke der Seele, die sie auf der Reise zur Arbeit sah. Kleine Schritte, neue Wege, Mut zu Unvollkommenheiten. Das rote Notizbuch wurde bald zum täglichen Ritual, einem Ort der Sammlung und der Klarheit.
Mit jedem Tag schienen ihre Notizen sich zu entfalten und Leben einzuhauchen in die bisher starren Muster ihres Alltags. Max ermutigte sie, einige ihrer Gedanken mit ihrem Team zu teilen, woraufhin neue Projekte und kreative Prozesse ins Rollen kamen, die vorher undenkbar gewesen waren.
Es war, als hätten ihre Worte eine Kettenreaktion ausgelöst, die unsichtbare Hindernisse niederwalzten. Das Büro, der Kaffeehausduft und der sommerliche Glanz entfalteten eine neue Dimension. Selbst Clara, die bei einem gemeinsamen Treffen im Park in der Ferne lächelte, schien stolz auf ihre Schülerin zu sein.
Der Sommer wandelte sich langsam zu einem farbenfrohen Herbst, als Sina schließlich die letzten Seiten des Notizbuches mit Gedanken und Erfahrungen füllte. Sie wusste, sie schrieb ihr eigenes Kapitel. Es war die Summe kleiner Schritte, die sie wachsen ließen. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie das Notizbuch schloss.
Der Tisch im Kaffeehaus, an dem sie saß, stand fest verankert Teil ihrer Reise, nicht zu einem Ziel, sondern zu einem Zustand von Sein und Werden. Das rote Notizbuch war nicht nur Objekt, sondern Symbol geworden. Ihr sanftes “Was wäre, wenn…” stellte keine Frage mehr dar, es war eine Einladung.




