Wo Geschichten wieder beginnen
A
nnigen Durcheinander aus handgeschriebenen Notizen, vergilbten Fotos und zerfledderten Büchern für einen Gast suchen musste, fühlte sie sich doch irgendwie wohl hier. Der Garten vor dem Fenster war durchnässt und die Blätter, die der Wind in heftigen Stößen von den Bäumen riss, tanzten wie verlorene Erinnerungen im Regen.
Anna zog den Kragen ihres Mantels enger um den Hals und bestellte bei Marie, der Kellnerin mit der sanften Stimme und den aufmerksamen Augen, einen Cappuccino. Das hier war keine gewöhnliche Pause von ihrem hektischen Alltag – das Café der verlorenen Briefe fühlte sich an wie ein Ort, an dem Geschichten beginnen oder enden konnten.
Wärmer wurde es in ihrem Herzen, als sie sich an das letzte Mal erinnerte, als sie hierher geflüchtet war, um dem ständigen Lärm der Stadt zu entkommen. Damals hatte sie ein blondes, windzerzaustes Haar im Blick gehabt und das Gefühl, als ob ein lange schlafendes Gefühl in ihr erwachte. Heute, mit dem tristen Wetter und den schwer fallenden Tropfen am Glas, schien alles anders. Doch wie es der Zufall wollte, stieß sie beim Durchblättern eines Buches auf einen alten Briefumschlag ohne Absender. Neugier kitzelte an ihrer Sinne.
Vorsichtig öffnete sie das Siegel, allzu bewusst, dass sie einen Moment lang in eine fremde Welt eintauchen könnte. Die Wörter, die sie fand, waren gestohlen aus einem Traum. “Für den Tag, an dem wir uns wiedersehen, mein Herz, das dich nie vergaß.” Es war weder die Handschrift des Schicksals noch irgendeines Schriftstellers – der Absender war Lukas, ein Name, der ihren Atem stocken ließ.
Lukas, der ihr Lächeln geklaut hatte, lange bevor die Zeit um sie wie gefroren schien.
Während sie die Worte las, kam der Mann selbst durch die Tür, die von einem Windstoß geöffnet wurde, und schüttelte das Wasser aus seinen Haaren. Lukas – wirklich er? Er sah hinter der Scheibe aus wie eine Gestalt, die aus einem Regenlied getreten war. Einander gegenübergestellt, in einem Café voller vergessener Briefe und dampfenden Kaffee, fühlten sich die Wände enger an. Die alte Vertrautheit drohte in ihren Herzen zu implodieren.
Marie brachte den dampfenden Cappuccino und warf einen schnellen, wissenden Blick auf die beiden. “Braucht ihr noch etwas?”, fragte sie, mit dieser seltsamen Intensität in ihrer Stimme, die aussah, als wäre sie nicht nur Zeugin, sondern vielleicht sogar eine Dirigentin dieses Schicksalsspiels.
„Danke, alles gut”, murmelte Anna ohne den Blick von Lukas zu lösen. Wie konnte es sein, dass Treffen wie diese einfach aus dem Nichts auftauchen und die Welt auf den Kopf stellen?
„Anna?“, fragte Lukas, seine Stimme war ein Flüstern, das durch den Raum schwebte und sich um sie legte wie ein sanfter Mantel. Sie nickte und gestikulierte ihm, an ihrem Tisch Platz zu nehmen, wo der Abdruck eines Kaffeerands noch das Papier zierte.
Das Gespräch zwischen ihnen begann stockend, fast so, als ob die Überreste alter Wunden immer noch unbehandelt im Raum hingen. „Das ist … Jahre her”, begann er, und ja, sie sprachen von den Jahren, die verstrichen waren, ohne dass sie sich gegenseitig suchten oder gefunden hatten.
Mit jedem Wort, das gefällt wurde, fiel der Regen schwerer gegen die Außenwelt, ein willkommener Taktgeber für ihr Gespräch. Lukas erzählte von seiner Reise, wie er von Land zu Land gezogen war, immer den Brief zwischen seinen Büchern, in der Hoffnung, die Worte irgendwann zu sehen, etwas Konkretes daraus zu machen.
„Der Brief,” sagte sie mit einem kleinen Lächeln. „Woher wusstest du, dass ich ihn finden würde?”
„Ich dachte, vielleicht kommt an einem windigen Tag die Erinnerung bei dir an“, antwortete er und beide lachten leise, als war dieser Moment der Beginn von etwas Neuem und Wundervollem.
Es waren nicht die Worte selbst, die sie wieder vereinten, sondern die Erinnerungen, die durch diesen Herbstnachmittag getragen worden waren und ihnen den Raum zum Reden gegeben hatten. In der Wärme des Cafés mit den kleinen, abgedunkelten Ecken, küsste der Kaffee ihren Sinn für das Mögliche wach.
Während die Stunden vergingen, spürte Anna, dass manche Geschichten vielleicht wirklich kein Ende haben, sondern irgendwo zwischen Restaurants und Cafés auf neue Anfänge warten. Sie hatten sich verloren, ja, aber hier hatten sie die Möglichkeit, sich wiederzufinden. Und vielleicht war das der wahre Zauber des „Café der verlorenen Briefe“.
Das Regenklopfen gegen das Fenster verstummte, als sie hinaustraten und die Straße entlanggingen. Der Herbst hatte aufgehört zu weinen, um ihnen den Weg zu ebnen für eine neue Geschichte, die nur darauf wartete, erzählt zu werden – bei den Farben des Tages und dem Duft des Restes der Nacht. Die Morgendämmerung am Horizont versprach Vergangenes zu umarmen, gleich wie der Herbstlaubteppich, der unter ihren Füßen raschelte.




