Zwei Plätze am Fenster
Anna stieg in die Straßenbahn ein, ihre Sinne waren geschärft von der kühlen Abendluft, die sie gerade hinter sich gelassen hatte. Der Tag war lang gewesen, die Stunden zäh, und das Gefühl der Erschöpfung hatte sich tief in ihre Knochen gegraben. Doch nun, in der vertrauten Enge der Bahn, fühlte sie sich geborgen, sicher. Ihre Finger fuhren über das glatte Metall des Haltegriffs, als sie ihren Platz in der fast leeren Straßenbahn suchte.
Die Stadt zog in dunklen Silhouetten am Fenster vorbei; Lichter blitzten im Vorüberziehen auf, als ob sie sie locken wollten. Anna ließ sich auf einem der Fensterplätze nieder, verlor sich im Gewimmel der Straßen und der sanften Bewegung der Bahn. Es war eine ihrer liebsten Zeiten des Tages, diese Übergänge zwischen Arbeit und Heim, in denen alles möglich schien.
Als die Bahn an einer Haltestelle hielt, bemerkte sie eine kleine Bewegung in ihrem Augenwinkel. Sie drehte sich leicht zur Seite und bemerkte Maro, der an der nächsten Haltestelle eingestiegen war. Er trug einen dunklen Mantel, der perfekt auf die melancholische Stimmung des Abends abgestimmt zu sein schien, und seine Augen hatten einen ruhigen, forschenden Ausdruck. Er sah in ihre Richtung, hielt für einen Moment den Blick, als ob er erahnen könnte, was sie dachte.
Maro setzte sich direkt auf den Sitzplatz neben Anna, obwohl die Bahn viele freie Plätze bot. Ein einfacher Akt, aber durch die gewählten Plätze am Fenster verband sie ein unsichtbarer Faden. Er roch nach einer Mischung aus frischem Kaffee und etwas undefinierbar Vertrautem, das sie aus ihrer Kindheit zu kennen glaubte. Ein winziges Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie sich zur Seite neigte und versuchte, den Kontakt unscheinbar zu halten.
„Ein schöner Abend“, sagte Maro beiläufig, seine Stimme ein wenig rau, wie von einem Tag geprägt, an dem man viel gesprochen hat.
Anna nickte. „Ja, die Stadt scheint in dieses warme Licht getaucht zu sein, als ob sie uns in eine weiche Decke einhüllen will.“
Der Austausch war unaufdringlich, aber in den Worten schwang mehr mit. Es war, als ob sich hier, mitten in Metall und Glas, ein Raum öffnete, der nur ihnen gehörte.
Sie schwiegen für eine Weile, während die Bahn weiter durch die Straßen rumpelte. Die vertrauten Geräusche des ÖPNV, das hydraulische Zischen der Türen, das rhythmische Klappern der Gleise, wurden zu einer beruhigenden Melodie, die ihre Gedanken ordnete.
Anna und Maro blickten beide aus dem Fenster, als ginge jede Bewegung der Bahn zu einem neuen Bild einer Diashow über, die sie gemeinsam ansahen. Ein älteres Paar, das Hand in Hand durch einen Park spazierte; Lichter, die über die Flusslandschaft tanzten; Schatten, die in den engen Gassen verloren gingen.
„Kommen Sie oft hierher?“, fragte Anna nach einer Weile und drehte sich leicht zu ihm.
„Wenn es sich ergibt“, antwortete Maro, eine Nuance von Nachdenklichkeit in seine Stimme gelegt. „Es ist für mich eine Art zu sehen, wie sich die Stadt jeden Tag verändert, ohne dass man es merkt.“
Anna lächelte sanft. „Ja, manchmal sind die besten Veränderungen die, die leise passieren.“
Die Bahn fuhr weiter, und die beiden schwiegen, doch das Schweigen war angenehm, gefüllt mit dem stillen Einvernehmen, das entsteht, wenn Worte nicht alles erklären müssen.
Als sie sich ihrem gemeinsamen Ziel näherten, Halt um Halt, nahm das Licht draußen langsam ab, und die Welt draußen verschwamm zu einem Meer von Farben, das durch die Bewegungen der Menschen und Autos immer wieder aufgewühlt wurde.
Anna und Maro sahen sich noch einmal an, als die Bahn an ihrem Punkt anzuhalten begann. Kein Wort brauchte es. Die geteilte Fahrt hatte sie einander näher gebracht, und doch war es mehr ein Beginn als ein Ende.
Sie standen auf, griffen nach ihren Habseligkeiten und traten durch die Türen der Bahn hinaus in die sterbende Abendluft, jeder mit seinen Gedanken, mit der Ahnung eines nächsten Kapitels, das ohne Eile warten konnte.




